Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
Therese gut gekannt?«
    »Als sie ging, wollte er sich umbringen.«
    »Wirklich?« Ich setzte mich auf.
    Sie schloß für einen Moment die Augen: Sogar ihre Lider waren faltig; so etwas hatte ich noch nie gesehen. »Das hat Dominik behauptet. Ich hätte Manuel nie danach gefragt. Keiner hätte das. Aber er war völlig außer sich. Erst als Dominik ihm gesagt hat, daß sie tot war, hat er aufgehört, sie zu suchen. Wollen Sie Tee?«
    »Nein. Ja. Ja, bitte. Haben Sie ein Foto von ihr?«
    Sie hob die Kanne und schenkte zittrig ein. »Fragen Sie sie, vielleicht schickt sie Ihnen eines.«
    »Wen soll ich fragen?«
    »Therese.«
    »Sie ist doch tot!«
    »Aber nein. Sie wohnt im Norden, an der Küste.«
    »Sie ist nicht gestorben?«
    »Nein, das hat Dominik nur gesagt. Manuel hätte nie aufgehört, sie zu suchen. Ich habe Bruno, ihren Mann, sehr gemocht. Er war so menschlich, ganz anders als... Nehmen Sie Zucker? Jetzt ist er schon lange tot. Die meisten sind tot.« Sie stellte die Kanne ab. »Milch?«
    »Nein! Haben Sie ihre Adresse?«
    »Ich glaube schon. Hören Sie? Er singt so schön. Kanaris singen nicht oft. Pauli ist eine Ausnahme.«
    »Geben Sie mir bitte die Adresse!« Sie antwortete nicht, sie schien nicht verstanden zu haben.
    »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte ich langsam, »ich höre nichts.«
    »Was?«
    »Er singt nicht. Er bewegt sich nicht, und ich glaube, es geht ihm auch sonst nicht sehr gut. Würden Sie mir bitte die Adresse geben?«

V
    Kurz nach zehn weckte mich die ins Fenster scheinende Sonne. Ich lag auf dem unaufgeschlagenen Bett, um mich verteilt ein Dutzend Tonbandkassetten, das Diktaphon war auf den Boden gefallen. Aus der Ferne hörte ich Kirchenglocken. Schwerfällig stand ich auf.
    Ich frühstückte unter demselben Hirschkopf, den ich schon gestern durch das Fenster gesehen hatte. Der Kaffee schmeckte wie Wasser, am Nebentisch schimpfte ein Vater mit seinem Sohn; der Kleine senkte den Kopf, schloß die Augen und tat, als wäre er nicht da. Hugo kroch mit angelegten Ohren über den Teppich. Ich rief nach der Wirtin und sagte, der Kaffee sei ungenießbar. Sie nickte gleichmütig und brachte eine neue Kanne. Na bitte, sagte ich. Sie zuckte die Achseln. Der Kaffee war nun wirklich stärker, nach drei Tassen fiel mein Herz in einen Galopprhythmus. Ich schulterte meine Tasche und ging los.
    Der Weg, auf dem ich gestern herabgestiegen war, sah bei Tageslicht ziemlich breit und ungefährlich aus, auch der Abhang hatte sich in eine schräge Blumenwiese verwandelt. Zwei Kühe sahen mich traurig an, ein Mann mit einer Sense, ähnlich dem alten Bauern auf dem Bild, rief etwas Unverständliches, ich nickte ihm zu, er lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Die Luft war kühl, die Schwüle von gestern verschwunden. Als ich den Wegweiser erreichte, war ich kaum außer Atem.
    Schnellen Schrittes ging ich die Straße hinauf, nach kaum zehn Minuten sah ich den Parkplatz und die Häuser. Der kleine Turm stach spitz in den Himmel. Vor dem Gartentor parkte der graue BMW. Ich läutete.
    Das sei jetzt kein guter Moment, sagte Anna feindselig. Herr Kaminski fühle sich nicht wohl, er habe sich gestern nicht einmal von den Gästen verabschiedet.
    »Das ist schlimm«, sagte ich befriedigt.
    Ja, sagte sie, sehr schlimm. Ich solle morgen wiederkommen!
    Ich ging an ihr vorbei, durch den Flur und das Eßzimmer, auf die Terrasse und kniff die Augen zusammen: das Halbrund der Berge, umrahmt vom gleißenden Vormittag. Anna kam mir nach und fragte, ob ich sie nicht verstanden hätte. Ich antwortete, ich zöge es vor, mit Frau Kaminski zu sprechen. Sie starrte mich an, dann wischte sie die Hände an der Schürze ab und ging ins Haus. Ich setzte mich auf einen Gartenstuhl und schloß die Augen. Die Sonnenwärme lag weich auf meinem Gesicht, ich hatte noch nie so saubere Luft geatmet.
    Doch, einmal schon. In Clairance. Vergeblich versuchte ich, die Erinnerung wegzuschieben.
    Ich hatte mich gegen vier Uhr nachmittags einer Touristengruppe angeschlossen. Der Stahlkorb war dröhnend hinabgesunken, Frauen hatten hysterisch gelacht, eiskalter Wind strömte aus der Tiefe. Für ein paar Sekunden war die Dunkelheit vollkommen.
    Ein niedriger Gang, elektrische Lampen mit gelblichem Schein, eine Brandschutztür aus Stahl ging quietschend auf und zu. »Ne vous perdez pas, don't get lost!« Der Führer schlurfte vor uns her, ein Amerikaner fotografierte, eine Frau betastete neugierig die weißen Adern im Stein. Die Luft schmeckte

Weitere Kostenlose Bücher