Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
unterwürfig, jahrelang.
    Vergeblich. Eines Tages wurde seine Verzweiflung zu groß, er stellte sich Bodhidharma in den Weg und rief: ›Meister, ich habe nichts!‹ Bodhidharma antwortete: ›Wirf es weg!‹« Kaminski drückte seine Zigarette aus. »Und da fand er Erleuchtung.«
    »Verstehe ich nicht. Wenn er nichts mehr hatte, warum...«
    »In dieser Woche bekam ich die ersten grauen Haare. Als ich wieder hinausging, hatte ich die ersten Skizzen für die Reflexionen. Es dauerte dann noch lange bis zum ersten guten Bild, aber darauf kam es nicht mehr an.« Er schwieg einen Moment. »Ich bin keiner von den großen. Weder Velazquez noch Goya, noch Rembrandt. Aber manchmal war ich ziemlich gut. So wenig ist das nicht. Und das war ich wegen dieser fünf Tage.«
    »Das werde ich zitieren.«
    »Sie sollen es nicht zitieren, Zöllner, Sie sollen es sich merken!« Wieder hatte ich das Gefühl, daß er mich ansah. »Alles Wichtige erreicht man in Sprüngen.«
    Ich machte dem Kellner ein Zeichen und verlangte die Rechnung. Sprünge oder nicht, diesmal würde ich nicht für ihn bezahlen.
    »Entschuldigen Sie mich«, sagte er, nahm seinen Stock und stand auf. »Nein, ich schaffe das.« Er ging in kleinen Schritten an mir vorbei, stieß an einen Tisch, entschuldigte sich, rempelte den Kellner an, entschuldigte sich wieder und verschwand in der Toilette. Der Kellner legte die Rechnung vor mich hin.
    »Einen Moment noch!« sagte ich.
    Wir warteten. Die Häuser wuchsen, ihre Glasfenster spiegelten das Grau des Himmels, auf den Straßen stauten sich Autos, der Regen wurde stärker. Er habe, sagte der Kellner, nicht ewig Zeit.
    »Einen Moment!«
    Vom nahen Flughafen stieg eine Maschine auf und wurde von den Wolken verschluckt. Die beiden Männer am Nebentisch warfen mir wütende Blicke zu und gingen. Draußen sah ich die Hauptstraße, die Leuchtschrift eines Kaufhauses, einen träge spuckenden Brunnen.
    »Also?« fragte der Kellner.
    Ich gab ihm wortlos die Kreditkarte. Ein Flugzeug sank blinkend herab, die Gleisstränge wurden mehr, der Kellner kam zurück und sagte, meine Karte sei gesperrt. Nicht möglich, sagte ich, er solle es noch einmal versuchen. Er sagte, er sei kein Idiot. Ich sagte, davon sei ich nicht überzeugt. Er starrte auf mich herab, rieb sein Kinn und antwortete nicht. Doch der Zug bremste schon, und ich hatte keine Zeit zum Diskutieren. Ich warf ihm einen Geldschein hin und ließ mir das Wechselgeld vollständig herausgeben. Als ich aufstand, kam Kaminski aus der Toilette.
    Ich packte die beiden Taschen, meine und die mit seinem Schlafrock, nahm ihn am Ellenbogen und führte ihn zur Ausstiegstür. Ich riß sie auf, unterdrückte den Impuls, ihn hinauszustoßen, sprang auf den Bahnsteig und half ihm sachte beim Aussteigen.
    »Ich will mich hinlegen.«
    »Sofort. Wir nehmen die U-Bahn und...«
    »Nein.«
    »Warum?«
    »Ich bin nie mit so etwas gefahren und werde jetzt nicht damit anfangen.«
    »Es ist nicht weit. Ein Taxi ist teuer.«
    »So teuer nicht.« Er zog mich den überfüllten Bahnsteig entlang und wich erstaunlich geschickt den Leuten aus; er trat auf die Straße, als wäre das etwas Selbstverständliches, und hob die Hand. Ein Taxi hielt, der Fahrer stieg aus und half ihm in den Wagenschlag. Ich setzte mich auf den Vordersitz, mein Hals war trocken vor Ärger, und nannte die Adresse.
    »Wieso der Regen?« sagte Kaminski nachdenklich. »Hier regnet es immer. Ich glaube, das ist das häßlichste Land der Welt.«
    Ich warf dem Fahrer einen besorgten Blick zu. Er war schnurrbärtig und fett und sah ziemlich kräftig aus.
    »Außer Belgien«, sagte Kaminski.
    »Waren Sie in Belgien?«
    »Gott bewahre. Würden Sie bezahlen? Ich habe kein Kleingeld.«
    »Ich dachte, Sie haben überhaupt kein Geld.«
    »Eben. Kein Geld.«
    »Ich habe für alles andere bezahlt!«
    »Sehr großzügig von Ihnen. Ich muß mich hinlegen.«
    Wir hielten, der Fahrer sah mich an, und weil es mir peinlich war, bezahlte ich. Ich stieg aus, der Regen schlug mir ins Gesicht. Kaminski rutschte aus, ich hielt ihn fest, sein Stock fiel klappernd zu Boden; als ich ihn aufhob, war er triefend naß. Der Marmor der Eingangshalle warf das Geräusch unserer Schritte zurück, der Aufzug trug uns lautlos empor. Für einen Moment befürchtete ich, Elke könnte das Schloß ausgetauscht haben. Aber mein Schlüssel paßte noch.
    Ich öffnete und lauschte: Nichts zu hören. Unter dem Briefschlitz lag die Post der letzten zwei Tage. Ich hustete laut,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher