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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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Regeln, um dieses Chaos irgendwie in die Fläche zu sperren. Nicht weniger, nicht mehr.«
    »Ja?« Ich hatte Hunger, im Gegensatz zu ihm hatte ich nur einen ungenießbaren Salat gehabt. Trockene Blätter in einer fettigen Sauce, und auf meine Beschwerde hin hatte der Kellner nur geseufzt. Das Diktaphon klickte, wieder war eine Kassette zu Ende, ich legte eine neue ein. Er hatte es wirklich geschafft, die ganze Zeit nichts zu sagen, das ich verwenden konnte.
    »Die Wahrheit liegt, wenn überhaupt, in der Atmosphäre. In der Farbe also, nicht in der Zeichnung, und schon gar nicht in den richtigen Fluchtlinien. Das haben Ihre Professoren Ihnen wohl nicht gesagt?«
    »Nein, nein.« Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Meine Erinnerungen an das Studium waren verschwommen: fruchtlose Diskussionen in Seminarräumen, blasse Kollegen, die sich vor ihren Referaten fürchteten, der Geruch abgestandenen Essens in der Mensa, und ständig bat einen jemand, einen Aufruf zu unterzeichnen. Einmal hatte ich eine Arbeit über Degas abgeben müssen. Degas? Mir war nichts eingefallen, also hatte ich alles aus dem Lexikon abgeschrieben. Nach zwei Semestern hatte ich auf Vermittlung meines Onkels die Anstellung bei der Werbeagentur bekommen, kurz darauf war der Kunstkritikerposten bei der Lokalzeitung frei geworden, und meine Bewerbung hatte Erfolg gehabt. Ich hatte es von Anfang an richtig gemacht: Manche Anfänger versuchten, sich über wütende Verrisse zu profilieren, aber so funktionierte es nicht. Man mußte vielmehr stets und in allen Dingen gleicher Meinung sein wie die Kollegen und unterdessen die Vernissagen nützen, um Kontakte zu knüpfen. Schon bald hatte ich für mehrere Magazine schreiben und meinen Posten aufgeben können.
    »Niemand zeichnete besser als Michelangelo, niemand konnte zeichnen wie er. Aber Farben haben ihm nicht viel bedeutet. Sehen Sie sich die Sixtina an: Ihm war gar nicht klar, daß sie... selbst etwas von der Welt erzählen. Nehmen Sie das auf?«
    »Jedes Wort.«
    »Sie wissen, daß ich mich in den Altmeistertechniken versucht habe. Eine Zeitlang habe ich sogar die Farben selbst hergestellt. Ich habe gelernt, Pigmente am Geruch zu unterscheiden. Wenn man das übt, kann man sogar mischen, ohne sich zu irren. So konnte ich besser sehen als mein Assistent mit seinen scharfen Augen.«
    Zwei Männer setzten sich an den Nebentisch. »Es geht um die vier P«, sagte der eine. »Preis, Promotion, Position, Produkt.«
    »Schauen Sie aus dem Fenster!« sagte Kaminski. Er lehnte sich zurück und rieb sich die Stirn; wieder fiel mir auf, wie groß seine Hände waren. Die Haut war rissig, um die Knöchel sah man vernarbte Schwielen: die Hände eines Handwerkers. »Ich nehme an, da sind Hügel, Wiesen, manchmal Dörfer. Stimmt das?«
    Ich lächelte. »So ungefähr.«
    »Scheint die Sonne?«
    »Ja.« Es regnete in Strömen. Und seit einer halben Stunde hatte ich nur überfüllte Straßen gesehen, Lagerhallen, Fabrikschlote. Keine Hügel oder Wiesen, Dörfer schon gar nicht.
    »Ich habe mich einmal gefragt, ob man eine Zugfahrt wie diese malen kann. Und zwar die ganze Fahrt, nicht bloß eine Momentaufnahme.«
    »Unsere Fokusgruppen«, rief der Mann am Nebentisch, »bestätigen, daß die Textur feiner geworden ist. Es schmeckt auch besser!« Besorgt schob ich das Diktaphon näher zu Kaminski. Wenn der Kerl da drüben nicht leiser sprach, würde ich nur ihn auf dem Band haben.
    »Ich habe oft darüber nachgedacht«, sagte Kaminski, »als ich aufhören mußte. Wie verfährt ein Gemälde mit der Zeit? Ich dachte damals an die Fahrt zwischen Paris und Lyon. Man müßte sie so darstellen, wie man sie in der Erinnerung sieht - zusammengedrängt ins Typische.«
    »Wir haben noch nicht über Ihre Ehe gesprochen, Manuel.«
    Er runzelte die Stirn.
    »Wir haben...« versuchte ich es noch einmal.
    »Bitte sprechen Sie mich nicht beim Vornamen an. Ich bin älter als Sie und andere Formen gewöhnt.«
    »Die Millionenfrage«, rief der Mann am Nebentisch, »wäre, ob die europäischen Märkte anders als die asiatischen reagieren!«
    Ich drehte mich um. Er war Anfang dreißig, und sein Jackett saß schief. Er war blaß und hatte seine wenigen Haare schräg über den Kopf gelegt. Genau die Art von Leuten konnte ich nicht ausstehen.
    »Die Millionenfrage!« wiederholte er und begegnete meinem Blick. »Was?«
    »Sprechen Sie leiser«, sagte ich.
    »Ich spreche leise!« sagte er.
    »Dann noch leiser!« sagte ich und drehte mich um.
    »Es
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