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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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halben Meter von meinem Kopf hielt, verstand ich jedes Wort.
    »Kann ich auch etwas sagen?«
    Ich setzte mich auf das Bett. Mit der freien Hand schaltete ich den Fernseher ein: Ein Reiter galoppierte durch eine Wüstenkulisse, ich schaltete um, eine Hausfrau betrachtete verliebt ein Handtuch, ich schaltete um, die Kulturredakteurin Verena Mangold sprach ernst ins Mikrofon, ich schaltete ab.
    »Kann ich auch etwas sagen?«
    Und diesmal gelang es. Sie verstummte so plötzlich, daß ich nicht darauf gefaßt war. Ein paar Sekunden horchten wir beide überrascht in die Stille.
    »Erstens, auf das Wort Entführung antworte ich nicht, auf dieses Niveau begebe ich mich nicht. Ihr Vater hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Ich mußte dafür meine Termine ändern, aber aus Verehrung und... Freundschaft habe ich das getan. Unser Gespräch darüber habe ich auf Tonband. Also vergessen Sie die Polizei, Sie würden sich lächerlich machen. Wir sind in einem erstklassigen Hotel, Ihr Vater hat sich in sein Zimmer zurückgezogen und möchte nicht gestört werden, morgen abend bringe ich ihn zurück. Zweitens, ich habe gar nichts durchstöbert! Weder Ihren Keller noch irgendeinen Schreibtisch. Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung!« Jetzt merkte sie wohl, daß sie sich mit dem Falschen angelegt hatte. »Und viertens ...« Ich stockte, »...drittens, über unser Ziel gebe ich keine Auskunft. Das soll er Ihnen selbst erklären. Ich fühle mich ihm... zu sehr verpflichtet.« Ich stand auf, der Klang meiner Stimme gefiel mir. »Er blüht förmlich auf. Die Freiheit tut ihm gut! Wenn ich Ihnen erzählen würde, was er eben... Es war höchste Zeit, daß ihn jemand aus diesem Gefängnis geholt hat.«
    Was? Ich lauschte verblüfft. Hatte ich mich verhört? Ich beugte mich vor und hielt mir das andere Ohr zu. Nein, hatte ich nicht.
    »Finden Sie das lustig?«
    Vor Wut stieß ich mit dem Knie gegen den Nachttisch. »Ja, das habe ich gesagt. Aus diesem Gefängnis.« Ich trat ans Fenster. Die Sonne stand niedrig über Dächern, Türmen, Antennen. »Gefängnis! Wenn Sie nicht sofort mit dem Lachen aufhören, lege ich auf. Hören Sie? Wenn Sie nicht sofort...«
    Ich drückte die Auflegtaste.
    Ich warf das Telefon weg und ging auf und ab, vor Ärger konnte ich kaum atmen. Ich rieb mir das Knie. Es war nicht klug gewesen, das Gespräch einfach abzubrechen. Ich schlug auf den Tisch, beugte mich vor und fühlte, wie die Wut langsam nachließ. Ich wartete. Doch zu meiner Überraschung rief sie nicht mehr an.
    Eigentlich war es ja gutgegangen. Sie nahm mich nicht ernst, also würde sie keine Maßnahmen ergreifen. Was auch immer sie so komisch gefunden hatte, ich hatte offenbar das Richtige gesagt. Wieder einmal das Richtige. Ich hatte einfach diese Begabung.
    Ich sah in den Spiegel. Vielleicht hatte er ja recht gehabt. Natürlich keine Glatze, aber ein kaum merkliches Zurückweichen des Haaransatzes, das mein Gesicht runder, älter und ein wenig blasser machte. Ich war nicht mehr so jung. Ich stand auf. Auch mein Jackett saß nicht gut. Ich hob eine Hand und senkte sie wieder, mein Spiegelbild tat zögernd das gleiche. Oder lag es nicht am Jackett? Da war etwas Schiefes in meiner Haltung, das mir noch nie aufgefallen war. Machen Sie sich nichts daraus! Woraus, in aller Welt? Vielleicht hast du noch eine Chance. Worüber hatte Miriam gelacht?
    Nein, ich hatte zu lange am Steuer gesessen, ich war einfach übermüdet. Was meinten sie alle? Ich schüttelte den Kopf, sah nach meinem Spiegelbild, sah schnell wieder weg. Was in aller Welt meinten sie denn?

IX
    »Die Perspektive ist eine Technik der Abstraktion, eine Konvention des Quattrocento, an die wir uns gewöhnt haben. Das Licht muß durch sehr viele Linsen, bevor wir ein Bild für realistisch halten. Die Wirklichkeit hat noch nie wie ein Foto ausgesehen.«
    »Nein?« sagte ich und unterdrückte ein Gähnen. Wir saßen im Speisewagen eines Schnellzuges. Kaminski trug seine Brille, sein Stock lehnte neben ihm, der Schlafrock war zusammengerollt in einer Plastiktasche in der Gepäckablage. Das Diktaphon lag eingeschaltet auf dem Tisch. Er hatte eine Suppe, zwei Hauptgerichte und ein Dessert gegessen und war jetzt beim Kaffee; ich hatte ihm das Fleisch vorgeschnitten und vergeblich versucht, ihn an seine Diät zu erinnern. Er war aufgeräumt und heiter, seit zwei Stunden sprach er ununterbrochen.
    »Die Wirklichkeit ändert sich bei jedem Blick, in jeder Sekunde. Die Perspektive ist eine Sammlung von
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