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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski
Autoren: Daniel Kehlmann
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müßte eine große Leinwand sein«, sagte Kaminski. »Und obwohl scheinbar nichts deutlich ist, müßte jeder, der die Fahrt schon gemacht hat, sie wiedererkennen. Ich dachte damals, ich könnte das schaffen.«
    »Und dann ist da die Standortsache!« rief der Mann am Nebentisch. »Ich frage, wo liegen die Prioritäten? Wissen sie nicht!«
    Ich drehte mich um und sah ihn an.
    »Sehen Sie mich an?« fragte er.
    »Nein!« sagte ich.
    »Frechheit«, sagte er.
    »Witzfigur«, sagte ich.
    »Muß ich mir nicht bieten lassen«, sagte er und stand auf.
    »Vielleicht schon.« Ich stand auch auf. Ich merkte, daß er viel größer war als ich. Die Gespräche im Waggon verstummten.
    »Setzen Sie sich«, sagte Kaminski mit einer merkwürdigen Stimme.
    Der Mann, plötzlich unschlüssig, trat vor und wieder zurück. Er sah den anderen an seinem Tisch, dann Kaminski an. Er rieb sich die Stirn. Dann setzte er sich.
    »Sehr gut«, sagte ich, »das war...«
    »Sie auch!«
    Ich setzte mich sofort. Ich starrte ihn an, mein Herz klopfte.
    Er lehnte sich zurück, seine Finger strichen über die leere Kaffeetasse. »Es ist gleich eins, und ich muß mich hinlegen.«
    »Ich weiß.« Ich schloß einen Moment lang die Augen. Was hatte mich so erschreckt? »Wir kommen gleich in die Wohnung.«
    »Ich will ein Hotel.«
    Dann bezahlen Sie eines, wollte ich sagen, aber ich unterdrückte es. Heute morgen hatte ich wieder die Hotelrechnung mitsamt seinem Zimmerservice übernehmen müssen. Während ich Herrn Wegenfeld meine Kreditkarte gegeben hatte, waren mir wieder Kaminskis Kontoauszüge eingefallen. Dieser kleine, geizige Greis, der auf meine Kosten reiste, schlief und aß, hatte trotz allem mehr Geld, als ich je verdienen würde.
    »Wir sind privat untergebracht, bei einer... Bei mir. Eine große Wohnung, sehr komfortabel. Wird Ihnen gefallen.«
    »Ich will ins Hotel.«
    »Es wird Ihnen gefallen!« Elke würde erst morgen nachmittag wiederkommen, dann wären wir schon abgereist, wahrscheinlich würde sie es nicht einmal bemerken. Befriedigt stellte ich fest, daß der Affe am Nebentisch nun leise sprach. Ich hatte ihn doch eingeschüchtert.
    »Geben Sie mir eine Zigarette!« sagte Kaminski.
    »Sie sollen nicht rauchen.«
    »Was immer die Sache beschleunigt, ist mir recht. Ihnen doch auch, oder? Beim Malen, wollte ich sagen, geht es genauso ums Problemlösen wie in der Wissenschaft.« Ich gab ihm eine Zigarette, er zündete sie zittrig an. Was hatte er da gesagt - mir auch? Hatte er etwas erraten?
    »Zum Beispiel wollte ich eine Serie von Selbstporträts machen, aber nicht mit meinem Spiegelbild oder Fotos als Vorlage, sondern nur aus der Vorstellung, die ich von mir hatte. Niemand hat ja eine Ahnung, wie er selbst aussieht, wir haben völlig falsche Bilder von uns. Normalerweise bemüht man sich, das mit allerlei Hilfsmitteln auszugleichen. Wenn man aber das Gegenteil tut, wenn man eben dieses falsche Bild malt, und zwar so genau wie möglich, mit allen Details, allen charakteristischen Zügen...!« Er schlug auf den Tisch. »Ein Porträt und doch nicht! Können Sie sich das vorstellen? Aber es wurde nichts daraus.«
    »Sie haben es versucht.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich... nehme es an.«
    »Ja, ich habe es versucht. Dann haben meine Augen ... Oder vielleicht waren es nicht meine Augen, es ging einfach nicht gut. Man muß wissen, wenn man geschlagen ist. Miriam hat sie verbrannt.«
    »Bitte?«
    »Ich habe sie darum gebeten.« Er legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch senkrecht in die Luft. »Seit damals war ich nicht mehr im Atelier.«
    »Das glaube ich!«
    »Darüber darf man nicht traurig sein. Denn darum geht doch alles: das Einschätzen des eigenen Talents. Als ich jung war und noch nichts Brauchbares gemalt hatte... Ich glaube nicht, daß Sie sich das vorstellen können. Ich sperrte mich eine Woche...«
    »Fünf Tage.«
    »... von mir aus, fünf Tage ein, um nachzudenken. Ich wußte, daß ich noch nichts zustande gebracht hatte. In diesen Dingen kann einem niemand helfen.« Er tastete nach dem Aschenbecher. »Ich brauchte nicht bloß eine gute Idee. Die gibt es überall. Ich mußte finden, was für eine Art Maler ich werden konnte. Einen Weg aus der Mittelmäßigkeit.«
    »Aus der Mittelmäßigkeit«, wiederholte ich.
    »Kennen Sie die Geschichte von Bodhidharmas Schüler?«
    »Von wem?«
    »Bodhidharma war ein indischer Weiser in China. Einer wollte sein Schüler werden und wurde abgelehnt. Daher folgte er ihm. Stumm und
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