Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
nichts tun!, war mein einziger Gedanke.
Anschließend stürmten sie weiter ins Schlafzimmer meiner Eltern, durchsuchten alles und schauten sogar unter dem Bett nach, doch sie fanden nichts. Sie fauchten meine Mutter an: »Wir kommen wieder, um ihn zu holen!« Dann endlich gingen sie.
Damals, an jenem Tag, hat die Gestapo meinen Vater nicht mitgenommen. Er hatte Glück, denn während des zwei Tage andauernden Reichspogroms wurden 30.000 Juden verhaftet und mit unbekanntem Ziel verschleppt.
Anna, diese Worte klingen so unpersönlich, so allgemein, so vage.
Deshalb will ich hier nur ein Einzelschicksal anführen: Lottes geliebter Vater, ein angesehener klassischer Violinist, wurde nach Dachau deportiert. Doch vor dem Abtransport machte ihm die SS noch ein Abschiedsgeschenk: Sie brachen ihm systematisch sämtliche Finger, um zu verhindern, dass er jemals wieder Violine spielte.
4
DUNKELHEIT
November 1938 – Juli 1939
Mein Vater kam drei Tage lang nicht nach Hause, bis sich die Lage etwas beruhigt hatte. Erst später erfuhr ich, Anna, dass er sich in dieser Zeit in einer Hütte im Grunewald versteckt hatte, die einem seiner Freunde vom Wanderverein gehörte.
Als er wieder nach Hause kam, wirkte er älter, trauriger und war nicht mehr der fröhliche Vater, den ich kannte und liebte.
Noch am selben Abend saßen er und meine Mutter zusammen in der Küche und redeten bis spät in die Nacht.
Ich konnte ihre Stimmen nur gedämpft hören und verstand auch kein Wort, aber trotzdem konnte ich hinterher vor Angst lange nicht einschlafen.
Ich hätte mir so sehr gewünscht, mit Lotte und Ruthie über alles zu reden, aber als Lottes Vater aus Dachau zurückkam, war er nur noch ein Schatten seines früheren Selbst, und floh mit seiner Frau und Lotte aus Deutschland. Sie wollten nach England.
Die Familie meiner Freundin Ruthie erlitt ein noch schlimmeres Schicksal: Nachdem ihr Vater in ein KZ gebracht worden war, haben Ruthie und ihre Mutter tagelang auf eine Nachricht von ihm gewartet, doch vergebens.
Dann, eines Tages, läutete es an ihrer Tür, und der Postbote übergab Ruthies Mutter ein kleines, längliches Päckchen und bat sie, den Empfang zu quittieren.
Das tat sie. Dann öffnete sie das Päckchen.
Im Inneren befand sich ein offizielles Schreiben … zusammen mit der Asche ihres Mannes, Ruthies Vater.
Innerhalb weniger Tage reiste Ruthie mit ihrer Mutter nach Warschau ab, ohne sich von mir zu verabschieden.
Ich war traurig, aber ich verstand es.
Irgendwann, so sagte ich mir, würde dieser Irrsinn ein Ende haben und das Leben würde wieder seinen normalen Gang gehen, und dann würden Ruthie und ich uns wiedersehen.
Liebes Tagebuch,
heute ist der 1. Februar 1939 und wir haben ein neues Jahr, aber niemand hat Lust zu feiern. Denn es wird mit jedem Tag schlimmer und schlimmer.
Meine Schule ist geschlossen worden, meine zwei besten Freundinnen haben Deutschland verlassen, und heute Morgen mussten Papa, Mama und ich ins Hauptquartier kommen. Dort wurden unsere Fingerabdrücke genommen, als wenn wir gewöhnliche Verbrecher wären.
Als der Gestapo-Offizier meinen Finger auf das Stempel kissen drückte, war er so grob, dass es mir wehtat.
Ich bin zusammengezuckt, habe mir aber auf die Zähne gebissen und keinen Mucks gemacht.
Noch schlimmer ist, dass es ein neues Gesetz gibt. Es ist vollkommen lächerlich, denn ich heiße jetzt Sara. Mama auch. Papa heißt jetzt Israel.
Ich finde es schrecklich, dass ich nicht mehr zur Schule gehen darf, und ich darf auch nicht mehr im Garten spielen.
Jetzt, wo Lotte und Ruthie weg sind (und ich vermisse sie mehr, als ich sagen kann), habe ich nur noch eine Freude, abgesehen davon natürlich, dass ich mit Papa Gedichte schreibe und Mama beim Nähen helfe. Und manchmal sitze ich am Fenster und hoffe, dass Rolf an unserem Haus vorbeifährt.
Liebes Tagebuch,
ich wünschte, ich wäre tot. Oder Rolf. Er ist ein Ungeheuer und ich hasse ihn von ganzem Herzen. Ich bin jetzt noch rot im Gesicht vor Wut und weil ich mich so schäme.
Und das ist passiert: Ich kam gerade von der Bäckerei, mit einer Tüte Pfannkuchen in der Hand, als Rolf plötzlich vor mir stand.
»Marion Czarlinski, die süße Marion Czarlinski!«, hat er gerufen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Da ich recht groß bin, standen wir uns Aug in Aug gegenüber und sahen uns für einen Moment lang nur an.
Gleich wird er mich küssen, gleich wird er mich küssen, dachte ich aufgeregt, als er mich um die Taille fasste
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