Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
aufnehmen will, damit wir drei wieder in Sicherheit und in Freiheit leben können. Amerika, Bolivien, Schweden, Palästina, Holland, Ecuador oder England. Egal wo, Hauptsache sie wollen uns haben.
Doch wenn wir dann endlich am Schalter vor der Glasscheibe stehen und unsere Papiere vorzeigen, mustert der Beamte Papa mit seinem Stock und seinem kranken Bein, sieht, dass ihm ein Daumen fehlt, und winkt uns weg.
Nach einiger Zeit mussten meine Eltern wohl oder übel einsehen, dass uns kein Land der Welt Zuflucht vor den Nazis bieten würde.
Und obwohl es nie offiziell als Grund für die Ablehnung genannt wurde, lag es eindeutig an den nur allzu deutlich sichtbaren Wunden, die mein Vater im Kampf für sein Vaterland im Ersten Weltkrieg erlitten hat. Wegen der Verletzungen, die sich mein Vater im Kampf für Deutschland zugezogen hat, einem Land, das ihn und seine Familie nun für immer vertreiben wollte, wollte uns kein anderes Land aufnehmen!
Und statt ihre erfolglose Suche nach einem Land fortzusetzen, das uns alle aufnehmen würde, sahen meine Eltern keine andere Möglichkeit, als mich im Rahmen des Kindertransports nach England zu schicken. Eine englische Organisation, die nach dem Reichspogrom gegründet worden war, hatte sich das Ziel gesetzt, jüdische Kinder wie mich zu retten.
Jüdische Kinder wie mich? Da musste also erst dieser Adolf Hitler daherkommen, damit ich meine wahre Identität fand …
5
ABSCHIED VON BERLIN
Liebes Tagebuch,
heute hatte ich meine erste Englischstunde.
Die Lehrerin, Miss Anita Fraser, kam zu uns nach Hause, in die Limonenstraße. Sie ist Schottin.
Sie hat rote Haare, grüne Augen und Sommersprossen, und sie hat mir ein lustiges Lied beigebracht, das so beginnt: »One man went to mow, went to mow a meadow …«
Ein Mann ging zum Mähen, er ging eine Wiese mähen …? Sehr komisch. England muss ein merkwürdiges Land sein, in dem merkwürdige Menschen leben.
Bisher habe ich nur von König Heinrich VIII . und seinen sechs Frauen gewusst, mehr nicht.
Aber ich werde bald viel mehr über England erfahren und darauf freue ich mich.
Ich wünschte nur, Mama und Papa könnten mit mir nach England kommen.
Alice Hirsch, eine Schulfreundin von Mama, hat die Bürgschaft für mich übernommen. Das heißt, sie hat der britischen Regierung fünfzig englische Pfund für mich bezahlt.
Das klingt irgendwie peinlich, denn wir hätten das Geld auch selbst aufbringen können.
Aber Hitler und seine Regierung hat den Juden verboten, Geld ins Ausland zu schicken, deshalb geht es nicht.
Und ich darf nur zehn Reichsmark mitnehmen. Außerdem einen kleinen Koffer, eine Fotografie und ein einziges Spielzeug. Sonst nichts.
Aber vielleicht brauche ich auch nicht viel mehr, weil Mama und Papa ja bald nach England nachkommen werden. Bis dahin wird sich eine sehr nette und freundliche englische Lady um mich kümmern.
Sie heißt Mrs Rix und ist eine Pfarrerswitwe.
Ich werde in ihrem schönen Haus in einem Ort namens Great Shelford wohnen, in der Nähe von Cambridge.
Ob es auch in der Nähe von Golders Green liegt, wo Lotte jetzt wohnt?
Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen.
Kurz darauf, am 23. Februar 1939, erhielten meine Eltern einen Brief von Mrs Rix, der Pfarrerswitwe. So erfuhr ich meine neue, vollständige Anschrift: Great Shelford, Cambridgeshire.
Der Brief fing mit folgenden Worten an: Es muss sehr schmerzlich für Sie sein, sich von Ihrer Tochter trennen zu müssen, und das kann ich gut nachempfinden. Aber glauben Sie mir: Ich werde mein Möglichstes tun, damit sie sich bei uns wohl fühlt, und ich möchte sie so behandeln, wie ich meine eigenen zwei Kinder im umgekehrten Fall behandelt wissen möchte.
Als ich diesen Brief nach vielen, vielen Jahren wieder las, war ich Mrs Rix unendlich dankbar dafür. Damit hat sie meinen Eltern sicher das Gefühl gegeben, dass sie ihre einzige Tochter aufs Land in das gastfreundliche Heim einer reizenden und gütigen Frau schicken würden, bei der sie in guten Händen war.
Noch heute kann ich mir nicht wirklich vorstellen, wie unsagbar schwer meinen Eltern der Entschluss gefallen sein muss, mich nach England zu schicken, damit ich in Sicherheit war.
Sich von mir zu trennen, um mir dadurch das Leben zu retten, war eine wahrhaft heroische Entscheidung.
Ich habe keinen Zweifel, dass sie ihnen nicht leichtgefallen ist. Sie müssen schrecklich darunter gelitten haben.
Ich habe vermutlich auch gelitten, aber tapfer versucht, meine wahren Gefühle
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