Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
und an sich zog.
Fast wie in Trance schürzte ich die Lippen.
»Verschwinde aus Deutschland, du Judenschwein! Geh und ertränk dich im Roten Meer, du Judensau!«, fauchte er und spuckte mir ins Gesicht.
Ich ließ meine Tüte mit den Pfannkuchen fallen und rannte nach Hause, so schnell ich konnte.
Ich wünschte, ich wäre tot. Oder er …
Jung und naiv wie ich damals noch war, glaubte ich allen Ernstes, diese Szene sei das Schlimmste gewesen, was mir jemals passieren könnte.
Doch ich hatte mich getäuscht.
Kurz nach der schmerzlichen Begegnung mit Rolf haben die Behörden unsere schöne Wohnung beschlagnahmt, die Wohnung, in der ich geboren wurde und mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
Beim Auszug mussten wir all unsere Sachen, die schönen Möbel aus Mahagoni und die kostbaren Perserteppiche für die neuen Bewohner dort lassen. Ich konnte es nicht glauben, als ich erfuhr, dass diese neuen Bewohner ausgerechnet Rolf und seine Familie waren, allesamt glühende Nazis.
Nachdem meine Eltern und ich unsere geliebte Wohnung am Asternplatz verlassen hatten, die stets mein Zuhause gewesen war, blickte ich einmal von der Straße aus nach oben und sah Rolf auf dem Balkon meines Zimmers in der Sonne sitzen.
Ich sah ihn, das ja, doch dann schloss ich die Augen und entschied, das Bild von Rolf und seiner Familie in unserem luxuriösen Heim, in unserem Heim, für immer aus meinem Gedächtnis zu streichen.
Ich weiß nicht, woher ich die Kraft oder überhaupt die Fähigkeit dazu nahm, doch nach diesem Tag dachte ich wirklich kaum noch an Rolf.
Uns wurde eine kleine Mietwohnung in der Limonenstraße 11 zugewiesen und mein hübsches rosa Kinderzimmer war nur noch eine Erinnerung. Doch ich versuchte, immer fröhlich zu sein, damit meine Eltern nicht merkten, wie traurig ich war.
Liebes Tagebuch,
ich habe beschlossen, unsere neue Wohnung »Limonenwohnung« zu nennen, denn das klingt irgendwie nett und gemütlich, viel gemütlicher, als es die schäbige Wohnung in Wirklichkeit ist.
Die Limonenwohnung ist so klein, dass fast alle meine Spielsachen und Puppen und die Villa Marion mit all ihren kleinen Bewohnern zusammen mit Mamas Porzellan, den Gläsern und ihrem Schmuck eingelagert werden mussten.
Zum Glück hat einer von Papas besten Freunden eine große Lagerfirma und er ist mitten in der Nacht gekommen und hat unsere Sachen abgeholt. Die bewahrt er nun für uns auf, bis die Pogrome vorbei sind.
Aber ich darf mich nicht beklagen. Die arme Ruth hat vielleicht nicht mal ein Dach über dem Kopf, irgendwo im fernen Polen.
Ich vermisse sie sehr. Ich wünschte, sie würde mir schreiben, aber vielleicht darf sie das nicht, weil ihre Familie sonst Ärger bekäme. Ich habe ja nicht mal ihre Adresse und kann ihr nicht helfen.
Die Adresse von Lotte weiß ich zum Glück, und sie wohnt in London, an einem Ort namens Golders Green, und es geht ihr gut.
Ich hoffe, dass dort nicht immer nur dichter Nebel ist und dass sich die Lage hier bald wieder beruhigt, damit sie und Ruth wieder nach Berlin zurückkommen können.
Ehrlich gesagt (und ich bin eigentlich immer ehrlich, besonders hier, in meinem Tagebuch) weiß ich nicht, ob es für uns jemals wieder gut wird. Wohin wir auch gehen (und es gibt nicht mehr viele Orte, an die wir gehen dürfen …), stoßen wir auf Scharen von SA -Männern, die in Sprechchören rufen: »Ein Reich, ein Volk, ein Führer!«
Und die Schlägertypen von der Hitlerjugend, die genau wie Rolf (oh, wie ich ihn hasse und verachte!) in ihren braunen Uniformen durch die Straßen marschieren und immer wieder rufen: »Wir kämpfen! Wir bringen Opfer! Wir siegen! Wir sind geboren, um für Deutschland zu sterben!«
Dazu kann ich nur sagen: Dann tut es doch! Besonders Rolf. Aber ich will ja nicht mehr an ihn denken, nicht jetzt und überhaupt nie mehr. Es tut zu weh.
Doch es gibt eine große Neuigkeit: Wir werden Deutschland verlassen. Wir haben das nötige Geld, wir haben die Pässe, und jetzt brauchen wir nur noch Visa für das Land, das uns aufnehmen wird.
Aber welches Land wird das sein?
Tag für Tag stehen Papa und ich stundenlang in den Schlangen vor den Botschaften.
Der arme Papa muss sich die meiste Zeit auf seinen Stock stützen, weil er nicht lange stehen kann, sonst tut ihm sein Bein weh.
Ich sage immer, er soll sich doch auf meine Schulter stützen, aber er sagt, das will er nicht.
Er sagt, die Schmerzen in seinem Bein sind ihm egal, wichtig ist nur, dass wir ein Land finden, das uns
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