Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Eltern und ich oft ganz früh aufgestanden und mit den Rädern in einen der vielen Wälder oder an einen der vielen Seen in der Nähe von Berlin gefahren. Oder wir sind auf einen kleinen Berg gefahren und haben dort ein Picknick gemacht.
Aber jetzt dürfen wir nicht mehr in die Hügel und durch die Wälder fahren, von denen wir fast dachten, sie gehörten uns, weil außer uns kaum jemand dort unterwegs war. Sie sind gesperrt und werden für die Ausbildung von Fallschirmjägern und Freischärler benutzt. Und nicht mehr lange, dann werde ich Berlin verlassen, vielleicht für immer.
Dann kam der Tag, an dem diese Nachricht eintraf:
Jüdischer Kinderwohlfahrtsverband 26. Mai 1939
Herr und Frau Czarlinski,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Ihre Tochter Marion im Rahmen des Kindertransports mit dem Zug am 4. Juli 1939 nach England fahren wird und sich um 7.00 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße einzufinden hat.
Treffpunkt: eigens reservierter Wartesaal
Hochachtungsvoll
Silberman
Am 4. Juli 1939, dem Tag, an dem ich mit dem Kindertransport nach England fahren würde, stand ich in aller Frühe auf. Ich ging ins Esszimmer, um mich von meinen Spielsachen dort zu verabschieden.
Die Vorschriften besagten, dass ich nur einen kleinen Koffer und nur ein Spielzeug nach England mitnehmen durfte. Und keine Bücher.
Ich entschied mich für Greta, die Babypuppe mit den goldblonden Locken, die Lotte mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Ich weiß noch, dass ich dachte, dass wir dann in London zusammen mit ihr spielen könnten.
Als Nächstes verabschiedete ich mich von Hansi, meinem Wellensittich, drückte ihm ein Küsschen auf sein gefiedertes Köpfchen und sagte ihm, er solle ja keinen Lärm machen, denn wenn zufällig gerade ein Nazi an unserem Haus vorbeiging, würde der ihn uns vielleicht wegnehmen.
Auf Zehenspitzen tapste ich dann in die Küche, weil ich meine Eltern nicht wecken wollte.
Zu meiner Überraschung saß mein Vater aber schon am Küchentisch, den Kopf auf die Hände gebettet.
Er trug sein dunkelblaues Samtjackett, das er schon am Vorabend getragen hatte, und da wusste ich, dass er in dieser Nacht nicht im Bett gewesen war.
Seine Augen waren geschlossen.
Als ich zu ihm ging, um ihm einen Kuss zu geben, sah ich Spuren von Tränen auf seinen Wangen.
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mein tapferer und wunderbarer Vater jemals weinen würde.
Bangen Herzens schlich ich mich wieder aus der Küche.
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und zog mich an.
Als ich fertig angezogen wieder herauskam, stand mein Vater schon wartend in der Tür, um mich zum Bahnhof zu bringen.
Meine Mutter kam nur bis zur Gartentür mit. Dort umarmte und küsste sie mich, lächelte mich aufmunternd an und sagte: »Wir sehen uns im Dezember, ja?«
Ich nickte und lächelte zurück, so strahlend wie ich nur konnte.
Als mein Vater und ich zur Bushaltestelle gingen (unser Auto war längst von einem Nazi-Nachbarn beschlagnahmt worden), winkte meine Mutter uns so fröhlich nach, als würden wir nur spazieren gehen und in ein paar Stunden zurück sein, um zusammen zu Mittag zu essen.
Meine Mutter winkte so lange, wie sie uns noch sehen konnte, immer noch lächelnd. Die Frau eines deutschen Offiziers weint nämlich nie, weißt du, Anna.
6
KINDERTRANSPORT
4. Juli 1939
Die Nazibehörden hatten sich gründlich überlegt, wie der Abtransport der Kinder im Rahmen des Kindertransports, mit dem 10.000 jüdische Kinder mit ihrer Erlaubnis nach England fliehen durften, am unauffälligsten vonstatten gehen könnte.
Es wurde beschlossen, dass diese Kinder zuerst mit dem Zug nach Holland und von dort aus mit der Fähre nach England fahren sollten.
Es war sehr clever von den Nazibeamten zu verhindern, dass die Kinder in Scharen von deutschen Häfen abreisten.
Ihnen war klar, dass es zu viel Aufsehen erregt hätte und auch eine schlechte Publicity gewesen wäre, wenn Tausende von Kindern auf großen Schiffen nach England geschickt wurden.
Damals hatte das Dritte Reich offenbar noch Angst vor schlechter Publicity in den Medien.
Es wurde auch angeordnet, dass es beim Einsteigen in die Züge keinesfalls zu tränenreichen Abschiedsszenen kommen durfte, da dies »normale« Zugreisende möglicherweise irritiert hätte.
Aus diesem Grund durfte jeweils nur ein Elternteil sein Kind – oder seine Kinder – zum Bahnhof begleiten.
Dieser eine Elternteil, so wurde verfügt, musste sich von seinem Kind oder seinen Kindern in einem speziell
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