Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
fünfundachtzig Jahren noch wunderschön und strahlte so ein Charisma und eine solche Herzenswärme aus, dass sich meine Aufregung weitgehend legte.
Während der ersten Minuten plauderten wir über das Wetter, und der Kellner nahm unsere Bestellung auf, bevor ich – mit Mrs Charles’ Einverständnis – meinen Rekorder einschaltete und meine erste Frage stellte: »Bevor wir über die Vergangenheit reden, Mrs Charles, möchte ich Ihnen folgende Frage stellen: Sie wurden als Jüdin aus Deutschland vertrieben, leben aber jetzt, mit über achtzig Jahren, wieder in diesem Land. Warum?«
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, antwortete sie: »Das ist ganz einfach, Anna. Deutschland war meine erste Liebe, und auch wenn die erste Liebe sehr schmerzhaft war, vergisst man sie nie, was immer auch geschieht. Und wenn es einem möglich ist, versucht man, sie zurückzugewinnen.
Anschließend, und bei zwei weiteren Treffen, führte mich Mrs Charles Schritt für Schritt durch die Geschichte ihres Lebens. Was ich dabei erfuhr, steht in diesem Buch.
Die aktuellen Kommentare von Mrs Charles über ihr damaliges Leben, die sie im Laufe der drei langen Unterhaltungen machte, sowie ihre heutige Sicht auf die Vergangenheit wurden des besseren Verständnisses wegen kursiv gedruckt.
Davon abgesehen stammt alles andere in diesem Buch aus der Feder von Mrs Charles, aus ihren Tagebüchern, Briefen, Telegrammen und Aufsätzen, die sie zwischen 1938 und 1947 schrieb, sowie aus ihrer unveröffentlichten Autobiografie.
Hier nun darf ich den Leserinnen und Lesern anlässlich des 75. Jahrestags des Reichspogroms – früher auch Reichskristallnacht genannt – voller Stolz die Lebensgeschichte einer Frau präsentieren, die eine der letzten und lebhaftesten Augenzeuginnen jener schrecklichen Ära unserer deutschen Geschichte ist.
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BERLINER MÄRCHEN
Samstag, den 9. Oktober 1937
Mein zehnter Geburtstag
Hier ein Foto von mir, Marion Czarlinski, wie ich damals aussah, Anna – aufgenommen von meiner Mutter an jenem Morgen.
Meine Haare sind kurz geschnitten, und meine braunen Augen sind groß vor Staunen und Aufregung, weil ich an diesem Tag Geburtstag habe und aus der Erfahrung meiner früheren neun Geburtstage weiß, dass es ein herrlicher, unvergesslicher Tag werden wird.
Ich wohnte mit meinen Eltern in einem mit viel Grün bewachsenen Berliner Vorort namens Dahlem, wo man von der antisemitischen Stimmung auf den Straßen der Hauptstadt nicht viel mitbekam.
Wir fühlten uns sicher und so deutsch wie alle anderen Deutschen. Schließlich leben Juden seit dem Jahr 321 auf deutschem Boden, und mein Vater und meine Onkel hatten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und waren dafür ausgezeichnet worden. Meine ganze Familie sprach Hochdeutsch und nie kam ein jiddischer Ausdruck über unsere Lippen.
Wir fühlten uns als Teil der deutschen Gesellschaft, führten ein sorgloses, unbeschwertes, privilegiertes Leben, und nichts deutete darauf hin, dass sich das eines Tages ändern würde – wie wir damals glaubten.
Ich war ein glückliches, zufriedenes Kind und lebte gern in Berlin. Obwohl ich noch so jung war, stand mein Berufswunsch bereits fest: Ich wollte später Schriftstellerin werden. Deshalb schrieb ich schon voller Eifer in mein Tagebuch, das meine Eltern mir zum achten Geburtstag geschenkt hatten.
Liebes Tagebuch,
heute bin ich zehn Jahre alt geworden. Du hättest meinen Gabentisch sehen sollen! All meine Wünsche wurden erfüllt. Ich kann meine Freude kaum beschreiben!
Das habe ich alles bekommen: ein wunderschönes weißes Nerz-Bolerojäckchen, eine große Porzellanpuppe mit blonden Zöpfen (ich weiß noch nicht, ob ich sie Ruthie oder Lotte nennen soll, so heißen meine zwei besten Freundinnen), zwei Bücher: »Jane Eyre« und »David Copperfield«, dann noch ein signiertes Foto von Shirley Temple (das den weiten Weg von Hollywood hierher gekommen sein muss), einen silbernen Ring mit einem Türkis und der Gravur »Gott mit Dir« und ein wunderschönes goldenes Medaillon mit zwei kleinen Fotos darin: das von meinem wunderbaren Papa und das meiner wunderbaren Mama. Sie sind die zwei liebsten Eltern auf der Welt!
Ich glaube, ich lebe wirklich fast wie in einem Märchen und mein Papa ist in Wirklichkeit ein Märchenkönig. Er ist groß und stark und hat sehr warme braune Augen und ist so lieb und freundlich, dass ich mich bei ihm sehr geborgen fühle. Und ich fühle mich sehr geliebt von ihm, jede Sekunde meines Lebens. Und
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