Ich war Hitlerjunge Salomon
einfach, sich in dem neuen Land einzuleben.
Sprache wie auch Mentalität unterschieden sich stark von dem,
was wir bisher kennengelernt hatten. Es gelang mir einfach
nicht, mich mit dieser Veränderung abzufinden. Mich plagte
das Heimweh nach Deutschland, wo ich als Kind so glücklich
war. Ich war im Innersten erschüttert durch diese plötzliche
und grausame Entwurzelung.
Ich war ein Emigrantenkind geworden. Und zu allem
Unglück mußte ich erfahren, daß man für Emigranten nir-
gendwo Sympathie empfand. Das laute höhnische Gekicher
der einheimischen jüdischen Kinder über den Jeke Potz mit
a top kawe (den Deutschen mit einer Tasse Kaffee) tat mir
weh und verstärkte meine Verwirrung. Ich konnte mich gegen
diese Prüfungen der Eingewöhnung immer weniger wehren.
Doch das Leben ging weiter, und die heftigen Spannungen
verschwanden am Ende. Mit dazu beigetragen hat, daß ich
nun wieder die Volksschule besuchte. Ich war gezwungen,
mich zusammenzureißen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit
lernte ich meine neue Sprache, das Polnische.
Al mählich schälte sich so etwas wie eine neue Existenz her-
aus. Die Beschäftigung mit polnischer Geschichte, den großen
Männern Polens, die fortwährend für nationale Unabhängigkeit
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und gegen Teilung und fremde Vorherrschaft gekämpft hatten,
machte mir dieses Land sympathischer. Ich hatte langsam das
vage Gefühl, daß dies meine zweite Heimat werden könnte.
Drei Jahre verstrichen … Dann ging das Schuljahr 1939
zu Ende. Ich schloß die Volksschule erfolgreich ab, und da-
mit. hatte ich meine Grundausbildung an einer öffentlichen
Schule hinter mich gebracht. Nach den großen Ferien sollte
ich auf das hebräische Gymnasium von Lodz überwechseln.
Ich entsinne mich noch der Worte des Abschiedsliedes,
das wir in der Schule gesungen hatten, bevor jeder seiner
Wege ging. Mit Tränen in den Augen hatten wir es feierlich
angestimmt:
Rasch geht das Leben vorüber,
Die Zeit verrinnt wie ein Bach.
In einem Jahr, einem Tag, einem Augenblick
Sind wir nicht mehr zusammen,
Und tief in unseren Herzen
Bleiben nur Trauer, Bedauern und Sehnsucht.
Als wir dies sangen, ahnten wir nicht, daß wir nicht nur
»nicht mehr zusammen« sein, sondern viele von uns bald gar
nicht mehr sein sollten.
Es kam der 1. September 1939. Die Armeen Hitlers fielen
in Polen ein und rissen dadurch die ganze Menschheit in den
Zweiten Weltkrieg.
Wir hörten Hitlers bedrohliche Rede im Radio und die
Antwort des polnischen Generalstabschefs Marschall Ridz
Szmígly, der erklärte, daß Polen mutig kämpfen und kei-
nen Zoll Land abtreten werde. Wenige Tage später sollte sich
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Polen dem Willen der Nazi-Eindringlinge beugen. Einzig die
Hauptstadt Warschau hielt einen Monat stand. Ich war von
neuem dem Nazi-Terror ausgesetzt, vor dem ich soeben geflo-
hen war. Ich war ihm in Peine davongelaufen, in Lodz holte
er mich wieder ein.
Die ersten Wehrmachtseinheiten marschierten in Lodz ein.
Tausende von Deutschstämmigen begrüßten sie mit einem
Blumenregen und »Sieg-Heil-Rufen«.
Für die dreihunderttausend Juden der Stadt aber versank
die Welt in Finsternis. Das Leben wurde zum Alptraum. Der
Unterricht am Gymnasium wurde eingestellt. Niemand durf-
te sich mehr Herr seines Schicksals wähnen. Eine schaurige
Vorahnung beschlich uns. Der Antisemitismus verbarg sich
nicht mehr, er kam überall offen zum Ausbruch.
Eines Tages, als ich am hebräischen Gymnasium vorbeiging,
sah ich Soldaten eine Gruppe von Juden in den Eingang eines
Gebäudes schleifen, sie versetzten ihnen Tritte und überzo-
gen sie mit unflätigen Beschimpfungen, sie schlugen sie und
schnitten ihnen die Bärte und Schläfenlocken ab. Entsetzt
über das, was sich vor meinen Augen abspielte, floh ich nach
Hause. Ich glaubte zu ersticken, rang nach Luft, mein gan-
zer Körper verkrampfte sich. Auf dem Heimweg mußte ich
mich mehrmals verstecken, um einem ähnlichen Anschlag
zu entgehen. Sie beraubten uns brutal der Menschenrechte,
wir wurden zu Freiwild, jedem Psychopathen in Uniform
ausgeliefert.
Einige Monate später erreichten uns die ersten Gerüchte
über die Absicht der Nazis, alle Juden in einer geschlossenen
Zone, das heißt in einem Ghetto, zusammenzufassen.
Meine Familie versammelte sich, um zu beratschlagen, was
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zu tun sei, und nach dramatischen Diskussionen wurde be-
schlossen, daß mein älterer Bruder Isaak, der damals neunund-
zwanzig Jahre alt war, und ich,
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