Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Perel
Vom Netzwerk:
endlos scheinenden Marsches die
    sich immer wiederholende Melodie von Ravels Bolero zu hören.
    Manchmal hielten die Bauern an, um uns auf einen na-
    hegelegenen Stützpunkt des deutschen Heeres aufmerksam
    zu machen. Danach nahmen wir unseren stummen Marsch
    wieder auf. Ich fühlte die besorgten Seitenblicke Isaaks, der
    das Gleichmaß meiner Schritte prüfte und meine Kräfte
    überwachte. Dann ging ich ganz aufrecht und lächelte ihm
    beschwichtigend zu.
    21
    In der dritten Dezemberwoche 1939 erreichten wir das
    Ufer des Bug, entkräftet, aber lebend. Auf der anderen Seite
    des Flusses waren deutlich die Soldaten der Roten Armee mit
    ihren grünen Mützen zu erkennen.
    Auch zahlreiche andere Flüchtlingsgruppen hatten sich hier
    eingefunden, und alle blickten sie nach Osten. Ein einziger
    Kahn, der einem polnischen Bauern gehörte, diente als Fähre.
    Ein Ansturm auf das Boot setzte ein, die Leute stießen ein-
    ander, einige wurden handgreiflich, um als erste einsteigen
    zu können. Mehr schlecht als recht erkämpfte ich mir einen
    Platz, doch mein Bruder hatte kein Glück und wurde ans
    Ufer zurückgeworfen. Schon legte der überladene Kahn ab.
    Leute sprangen ins Wasser, um uns einzuholen. Sie hofften,
    den Fluß überqueren zu können, indem sie sich an der Boots-
    wandung festklammerten. Ich schrie nach meinem Bruder,
    doch ich sah ihn nicht mehr. Ich brüllte aus Leibeskräften.
    In dem Tumult ringsum hörte ich ihn dann rufen, ich solle
    am anderen Ufer auf ihn warten.
    Der Bauer ruderte schnel und kräftig. Die starke Strömung
    drohte uns mitzureißen. Eisschol en rammten den Kahn. Wir
    hatten die Flußmitte bereits überquert, als sich auf dem Gesicht
    des Bauern plötzlich Angst und Entsetzen abzeichneten. Er
    stammelte: »Jesus Maria!« und bekreuzigte sich. Da sah ich,
    daß Wasser in den überladenen Kahn eindrang. Langsam, aber
    sicher begann er, in den schwarzen, eisigen Fluten des Bug zu
    versinken. Bis zum Ufer war es nicht mehr allzu weit, doch
    unter den Flüchtlingen an Bord brach Panik aus. Manche
    versuchten, sich schwimmend zu retten. Die Katastrophe ließ
    nicht auf sich warten. Der Kahn kippte mit all seinen Passa-
    gieren um. Die meisten Erwachsenen hatten bereits Grund
    22
    unter den Füßen, sie konnten an Land waten, ihre Packen
    auf dem Kopf balancierend. Ich aber war zu klein, meine
    Füße fanden keinen Halt. Ich fing an, Wasser zu schlucken.
    Verzweifelt versuchte ich, mich an Eisschollen zu klammern.
    Ich konnte nicht einmal schwimmen, eingezwängt wie ich
    war in mehrere Kleiderschichten, zwischen denen noch die
    Klappschirme befestigt waren. Niemand kam mir zu Hilfe.
    Zum Glück sah ein russischer Wachposten, daß ich zu ertrin-
    ken drohte, und sprang, ohne zu zögern, ins Wasser. Als er
    mich auf die Böschung gezogen hatte und ich wieder etwas
    zu Atem gekommen war, schenkte ich ihm zum Dank, daß
    er mir das Leben gerettet hatte, meinen Füllfederhalter, den
    ich zur Bar-Miz’wa bekommen hatte.
    Am folgenden Tag traf auch mein Bruder ein, und nachdem
    wir uns zur Feier unseres Wiedersehens herzlich umarmt hatten,
    setzten wir unseren Weg nach Osten, Richtung Bialystok fort.
    Die nazistische Gefahr lag jetzt weit hinter uns.
    Bialystoks Straßen und Amtsstellen quollen über von
    Flüchtlingen aus Westpolen. Gemäß dem deutsch-sowjetischen
    Grenz- und Freundschaftsvertrag blieb dieses Gebiet in den
    Händen der deutschen Eindringlinge, während die Rote Armee
    Ostpolen besetzt hielt. Zwischen den beiden Armeen verlief
    wie eine Trennlinie der Bug.
    Nach kurzem Aufenthalt in der Stadt wurde eine Lösung
    für meine sichere Unterbringung gefunden. Man verfrachtete
    mich in ein sowjetisches Waisenhaus in Grodno. Mein Bruder
    machte sich weiter auf nach Norden, nach Wilna, wo er seine
    alte Freundin Mira Rabinowitsch aufsuchen wollte.
    Das Waisenhaus (Dietski Dom Nr. 1) befand sich in der
    Orzeszkowastraße 15 in einem prächtigen Herrenhaus, das
    23
    einem polnischen Adligen gehörte – dies erzählte man uns
    zumindest. Dieser reiche Grundbesitzer war vor den Russen
    geflohen und suchte Zuflucht bei den Nazis. Was für eine
    verrückte Welt! Die Leute verließen Haus und Hof, die einen
    in Richtung Osten, um den Nazis zu entkommen, die anderen
    in Richtung Westen, um sich ihnen anzuschließen.
    In diesem Waisenhaus hatte ich wieder das Recht, mensch-
    lich zu leben, was ich lange schon nicht mehr gekonnt hatte.
    Nach und nach wurde ich ruhiger und kam wieder zu mir.
    Doch

Weitere Kostenlose Bücher