Ich war Hitlerjunge Salomon
endlos scheinenden Marsches die
sich immer wiederholende Melodie von Ravels Bolero zu hören.
Manchmal hielten die Bauern an, um uns auf einen na-
hegelegenen Stützpunkt des deutschen Heeres aufmerksam
zu machen. Danach nahmen wir unseren stummen Marsch
wieder auf. Ich fühlte die besorgten Seitenblicke Isaaks, der
das Gleichmaß meiner Schritte prüfte und meine Kräfte
überwachte. Dann ging ich ganz aufrecht und lächelte ihm
beschwichtigend zu.
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In der dritten Dezemberwoche 1939 erreichten wir das
Ufer des Bug, entkräftet, aber lebend. Auf der anderen Seite
des Flusses waren deutlich die Soldaten der Roten Armee mit
ihren grünen Mützen zu erkennen.
Auch zahlreiche andere Flüchtlingsgruppen hatten sich hier
eingefunden, und alle blickten sie nach Osten. Ein einziger
Kahn, der einem polnischen Bauern gehörte, diente als Fähre.
Ein Ansturm auf das Boot setzte ein, die Leute stießen ein-
ander, einige wurden handgreiflich, um als erste einsteigen
zu können. Mehr schlecht als recht erkämpfte ich mir einen
Platz, doch mein Bruder hatte kein Glück und wurde ans
Ufer zurückgeworfen. Schon legte der überladene Kahn ab.
Leute sprangen ins Wasser, um uns einzuholen. Sie hofften,
den Fluß überqueren zu können, indem sie sich an der Boots-
wandung festklammerten. Ich schrie nach meinem Bruder,
doch ich sah ihn nicht mehr. Ich brüllte aus Leibeskräften.
In dem Tumult ringsum hörte ich ihn dann rufen, ich solle
am anderen Ufer auf ihn warten.
Der Bauer ruderte schnel und kräftig. Die starke Strömung
drohte uns mitzureißen. Eisschol en rammten den Kahn. Wir
hatten die Flußmitte bereits überquert, als sich auf dem Gesicht
des Bauern plötzlich Angst und Entsetzen abzeichneten. Er
stammelte: »Jesus Maria!« und bekreuzigte sich. Da sah ich,
daß Wasser in den überladenen Kahn eindrang. Langsam, aber
sicher begann er, in den schwarzen, eisigen Fluten des Bug zu
versinken. Bis zum Ufer war es nicht mehr allzu weit, doch
unter den Flüchtlingen an Bord brach Panik aus. Manche
versuchten, sich schwimmend zu retten. Die Katastrophe ließ
nicht auf sich warten. Der Kahn kippte mit all seinen Passa-
gieren um. Die meisten Erwachsenen hatten bereits Grund
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unter den Füßen, sie konnten an Land waten, ihre Packen
auf dem Kopf balancierend. Ich aber war zu klein, meine
Füße fanden keinen Halt. Ich fing an, Wasser zu schlucken.
Verzweifelt versuchte ich, mich an Eisschollen zu klammern.
Ich konnte nicht einmal schwimmen, eingezwängt wie ich
war in mehrere Kleiderschichten, zwischen denen noch die
Klappschirme befestigt waren. Niemand kam mir zu Hilfe.
Zum Glück sah ein russischer Wachposten, daß ich zu ertrin-
ken drohte, und sprang, ohne zu zögern, ins Wasser. Als er
mich auf die Böschung gezogen hatte und ich wieder etwas
zu Atem gekommen war, schenkte ich ihm zum Dank, daß
er mir das Leben gerettet hatte, meinen Füllfederhalter, den
ich zur Bar-Miz’wa bekommen hatte.
Am folgenden Tag traf auch mein Bruder ein, und nachdem
wir uns zur Feier unseres Wiedersehens herzlich umarmt hatten,
setzten wir unseren Weg nach Osten, Richtung Bialystok fort.
Die nazistische Gefahr lag jetzt weit hinter uns.
Bialystoks Straßen und Amtsstellen quollen über von
Flüchtlingen aus Westpolen. Gemäß dem deutsch-sowjetischen
Grenz- und Freundschaftsvertrag blieb dieses Gebiet in den
Händen der deutschen Eindringlinge, während die Rote Armee
Ostpolen besetzt hielt. Zwischen den beiden Armeen verlief
wie eine Trennlinie der Bug.
Nach kurzem Aufenthalt in der Stadt wurde eine Lösung
für meine sichere Unterbringung gefunden. Man verfrachtete
mich in ein sowjetisches Waisenhaus in Grodno. Mein Bruder
machte sich weiter auf nach Norden, nach Wilna, wo er seine
alte Freundin Mira Rabinowitsch aufsuchen wollte.
Das Waisenhaus (Dietski Dom Nr. 1) befand sich in der
Orzeszkowastraße 15 in einem prächtigen Herrenhaus, das
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einem polnischen Adligen gehörte – dies erzählte man uns
zumindest. Dieser reiche Grundbesitzer war vor den Russen
geflohen und suchte Zuflucht bei den Nazis. Was für eine
verrückte Welt! Die Leute verließen Haus und Hof, die einen
in Richtung Osten, um den Nazis zu entkommen, die anderen
in Richtung Westen, um sich ihnen anzuschließen.
In diesem Waisenhaus hatte ich wieder das Recht, mensch-
lich zu leben, was ich lange schon nicht mehr gekonnt hatte.
Nach und nach wurde ich ruhiger und kam wieder zu mir.
Doch
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