Ich war Hitlerjunge Salomon
die alptraumhafte Zwangsreise hatte mich tief verstört.
Mein Verhalten und meine Gefühle waren völlig durchein-
ander. Den verständnisvollen Erzieherinnen hatte ich es zu
verdanken, daß ich mich wieder an ein normales Leben mit
regelmäßigem Stundenplan, vollständigen Mahlzeiten, einem
Bett, Unterricht und einem Chor gewöhnte. Alles hätte also
dazu beitragen müssen, dem Leben wieder Freude abgewinnen
zu können. Doch ich litt an Heimweh, und mich quälte die
Ungewißheit über die Lage meiner Familie. Ich wußte nicht,
was aus ihr geworden war – und ich lebte hier unbehelligt,
aß heißen Brei oder lernte ein neues Kapitel bolschewistische
Theorie aus dem »Kratki Kurs WKPB«, dem von Stalin ver-
faßten Ideologie-Lehrbuch.
Der Schmerz nagte an mir, an meiner Seele. Die physische
Reaktion trat dann auch bald ein. Ich wurde zum Bettnässer.
Jeden Morgen mußte ich unter den hämischen Blicken mei-
ner Mitschüler mein Bettzeug herausnehmen, es lüften und
trocknen. Das war mir noch nie passiert.
Wir verbrachten den Tag mit Lernen und musischer Beschäf-
tigung. Jeden Abend fanden wir uns, sauber und wohlriechend,
zum gemeinsamen Abendessen im weitläufigen Speisesaal ein,
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der nach dem Essen als Musiksaal genutzt wurde. Es gab
meistens Grießsuppe, die ich sehr gerne aß, weil sie mich an
ein Gericht erinnerte, das meine Mutter oft zubereitet hatte.
Als ich mir eines Tages diese köstliche Breisuppe schmecken
ließ, trat eine Erzieherin an mich heran und sagte, ich solle
in das Nebenzimmer gehen, wo eine junge Frau auf mich
warte. Ich stellte sogleich Vermutungen über die Identität
dieser Besucherin an. Viel eicht war es eine Schülerin aus dem
Nachbarwaisenhaus, die mich wegen irgendwelcher Aufgaben
befragen wollte, oder eine Schülerin der Theaterklasse. Ich
dachte sogar an Frau Kobrynski, die mich kurze Zeit vor mei-
ner Aufnahme ins Waisenhaus beherbergt hatte. Womöglich
brachte sie mir Nachrichten von zu Hause. Ich ließ hastig
meine dampfende Suppe stehen und eilte mit Riesenschritten
zum Nebenraum. Ich schloß gerade die Tür hinter mir, als
sich mir ein weinendes junges Mädchen an den Hals warf.
Es war Bertha! Bertha, meine geliebte Schwester! Endlich fiel
ein Lichtstrahl in meine Einsamkeit. Lange hielten wir uns
in den Armen und küßten uns. Ich wollte etwas sagen, doch
meine Worte gingen in einer Flut von Tränen unter, so aufge-
wühlt war ich. Bertha ließ mich nicht mehr los. Ich konnte
nur unzusammenhängende Worte stammeln, mit denen sich
mein übergroßes Glück Bahn zu brechen suchte.
Ich starrte Bertha immerzu ungläubig an. Ich sah ihre na-
türliche Schönheit, so wie sie mir noch heute im Gedächtnis
ist, und doch bemerkte ich rasch die Spuren des entsetzlichen
Leides in ihren Zügen, das Trennung und Flucht verursacht
hatten. Sie hielt ein armseliges Bündel in der Hand und sah
erschöpft aus. Mit einundzwanzig Jahren hatten sie die Prü-
fungen des Lebens bereits tief gezeichnet. Eine Stunde später,
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als der Rausch des Wiedersehens zu verfliegen begann, setz-
ten wir uns auf mein Bett, das einzige private Eckchen, und
unterhielten uns. Essen wollte sie nichts, um mich nur keine
Sekunde alleine zu lassen. Der Bericht ihres Abenteuers be-
stürzte mich. Mit einer Freundin war es ihr gelungen, durch
die Ghettotore zu entkommen, die sich wenig später endgültig
geschlossen hatten. Auf demselben Weg wie ich, die gleichen
Gefahren und Verwicklungen durchlebend, hatte sie den Bug
überquert und mich dank der Adresse, die ich auf meinen
Briefen in das Ghetto angegeben hatte, wiedergefunden.
Sie erzählte mir, daß es Vater und Mutter leidlich ginge,
daß sie glücklich seien, Isaak und mich an einem sicheren
Ort zu wissen, und daß die beiden beschlossen hätten, sie
nun ebenfalls in den Osten zu schicken. Mein Bruder David
schreibe keine besorgniserregenden Briefe aus dem deutschen
Gefangenenlager, in dem er saß.
Bertha schlief ein paar Stunden in einem freien Bett, und
in der Morgendämmerung des folgenden Tages nahmen wir
wieder Abschied. Sie ging nach Smorgon, nahe Wilna, wo
sie bei Isaak und Mira wohnen wollte, die gerade geheiratet
hatten.
Ich ahnte nicht, das dies eine endgültige Trennung sein
sollte. Während ich heute diese Zeilen schreibe, steht ihre
Photographie wie eine nie verwelkende Blume an meinem Bett.
Trotz der Ängste, die ich ausstand, lernte ich fleißig. Einmal
im Monat hatte ich
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