Ich war Hitlerjunge Salomon
daß man uns erschießen würde.
Siegestrunkene Soldaten, denen die Kriegsgreuel noch in
frischer Erinnerung waren, konnte der Rachedurst leicht zu
Übergriffen hinreißen.
Auf diese Weise sah ich mich also von neuem »feindlichen«
Soldaten gegenüber, wie vier Jahre zuvor auf einem Feld bei
Minsk.
Warum aber hatte ich damals vor dem deutschen Wachpo-
sten all meinen Mut zusammenzunehmen gewußt und erklärt:
»Ich bin Volksdeutscher!« Und jetzt war ich wie gelähmt, un-
fähig zu schreien: »Nicht schießen! Ich gehöre nicht dazu, ich
bin Jude, es ist wahr!« Da stand ich und sagte keinen Ton.
Ich steckte in meiner dicken und starken Hitlerschale und
konnte nicht heraus.
Welcher Zynismus wäre es, dachte ich, an meinem Geburts-
tag von den Befreiern erschossen zu werden, und das in dem
Augenblick, da die Freiheitsglocken schon erklangen! Mein
verschlungener Lebensweg würde für immer dem Vergessen
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anheimfal en. Ich wol te ja schreien, aber ich hatte Angst. Die
Worte wollten einfach nicht kommen. Ich hatte einen Schock
erlitten und fand keinen Ausweg.
Glücklicherweise war von Erschießung keine Rede. Den
amerikanischen Soldaten war es auch nicht eingefallen, sich
an uns zu rächen. Sie sahen in uns irregeleitete Kinder und
hatten uns nur erschrecken wollen.
Eine lange Stunde standen wir vor den drohenden Ge-
wehrläufen, bis die Untersuchungen und Beschlagnahmun-
gen beendet waren. Die meisten Soldaten gingen. Eine kleine
Gruppe blieb zu unserer Bewachung zurück.
Man befahl uns, alle Naziabzeichen abzulegen, die fort-
an von den Alliierten verboten wurden. Rasch warf ich alle
Sportabzeichen, die ich angehäuft hatte, und das Koppel der
Hitlerjugend weg. Ich stieß sie weit von mir.
Wer war ich jetzt? Ich schwebte über fremden, unbestimmten
Gebieten, hatte keinen festen Boden unter den Füßen und
kein Haus, in das ich hätte zurückkehren können. Meine
wahre Identität war mir noch unbekannt. Es gab sie zu jener
Stunde noch nicht. Die Freiheit war unbegreifbar. Ich hatte
vergessen, wie sie aussah.
Am folgenden Tag wurden wir aus dieser kurzen Gefangen-
schaft entlassen. Wir zerstoben in al e Winde, jeder ging seiner
Wege, schloß sich den zahllos umherirrenden Flüchtlingen an,
die ihre versprengten Familien wiederzufinden hofften. Ich
hatte noch niemandem gesagt, daß ich Jude sei. Ich wollte
mich nach Braunschweig zu meiner Schule durchschlagen, um
dort meine Sachen zu holen und mich zu sammeln. Ich wol te
mit mir selbst zu Rate gehen, begreifen, daß die dunklen Jahre
der Tarnung nun vorüber waren, und mich an das Licht einer
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neuen Welt gewöhnen. In völlig verwirrtem Zustand machte
ich mich auf zu meinem neuen Leben. Ich beschaffte mir
ein Fahrrad und legte die Entfernungen auf den Autostraßen
zurück. Tausende irrten umher, Flüchtlinge, die ihren Weg
suchten, besiegte und niedergeschlagene Wehrmachtssoldaten,
ausgezehrt von den Strapazen. Und dazwischen überall die
Alliierten, die Sieger. Ein Menschenwirrwarr auf Fahrzeugen
jeder Art wie behelfsmäßigen Karren und Fahrrädern oder
auf Schusters Rappen …
Und ich, wo sollte ich beginnen? Wie würde meine Zu-
kunft aussehen, und wie würde sie sich mit dem Vergangenen
verbinden? Würde ich mein zerborstenes Ich wieder herstellen
können? Könnte meine zerstörte Existenzgrundlage wieder heil
werden? Wäre es möglich, auf schwankendem Fundament ein
neues Leben aufzubauen? Natürlich hatte ich mich meiner
geliehenen Identität entledigt, aber noch fand ich meine wahre
nicht. Ich radelte im Niemandsland. Etwas war zu Ende, aber
etwas Neues begann nicht.
In einem Straßengraben machte ich Rast. Ich holte Ver-
pflegung aus meinem Beutel, die man an der Front noch
ausgeteilt hatte und die ich mir aufgespart hatte. Während
ich aß, betrachtete ich die in verschiedenen Richtungen vor-
beiziehenden Deutschen. Ich beobachtete die Gefangenen, die
man unter scharfer Bewachung zu den Sammel- und Vertei-
lungsstellen beförderte. Das Blatt hatte sich gewendet. Die
stolzen »Herrenmenschen« mit der unumschränkten Macht
schienen seit gestern am Ende zu sein.
Als ich mich Braunschweig näherte, erfuhr ich, daß die Stadt
gefallen war und ihre Bewohner zum Zeichen der Übergabe
weiße Fahnen an ihre Fenster hatten hängen müssen. Ich trat
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mit neuer Kraft in die Pedale und kam müde und keuchend in
der eroberten Stadt an. Auf den Gebäuden wehten tatsächlich
weiße
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