Ich war Hitlerjunge Salomon
Fahnen, und an den Mauern klebten riesige Plakate.
Sie stammten von der amerikanischen Besatzungsmacht, die
klar und unzweideutig bekanntmachte, daß jeder Bürger im
Besitz einer Waffe oder von Nazizeichen und jeder, der die
Ausgangssperre mißachte, erschossen werde.
Ich beeilte mich, in meine ehemalige Schule zu kommen,
da die Stunde der Ausgangssperre näherrückte. An der Hek-
ke, die um das Internat wuchs, sah ich eine Menschmenge
stehen. Ich begriff, daß es sich um die Arbeiter handelte, die
man zur Arbeit im Volkswagenwerk aus dem Osten geholt
hatte und die nun befreit worden waren. Sie waren aus ihren
winzigen, stacheldrahtbewehrten Baracken aus- und in unsere
geräumigen Zimmer eingezogen. Ich konnte nun nicht mehr
dorthin zurück, um meine Sachen zu holen. Da ich keine
Wahl hatte, fiel mir das ehemalige Lager der Zwangsarbeiter
ein. Es war nicht weit, und es gelang mir, wenige Minuten
vor dem Beginn der Ausgangssperre durch den immer noch
vorhandenen Stacheldrahtzaun zu schlüpfen und in eine der
Baracken zu verschwinden. Dort ließ ich mich auf eine Prit-
sche fallen. Ich war allein auf dem Gelände, allein mit der
Vergangenheit.
Ich spürte, daß jetzt keine schützende Hand mehr über
mich wachte. Die Einsamkeit war eine ganz andere, wenn auch
nicht leichter zu ertragen. Ich hatte die Besiegten verlassen,
gehörte aber nicht zu den Siegern. Eine bittere und eigenartige
Lage. Ich fühlte, daß etwas Wichtiges in mir schmolz und
Tropfen um Tropfen versickerte. Meine geschärften Sinne, die
Fähigkeit, sofort auf alles eine Antwort zu haben und mein
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starker Wille waren nicht mehr vorhanden. Sie hatten ihre
Funktion erfüllt. Dabei fühlte ich, daß ich sie jetzt nötiger
denn je brauchte.
Der Abend dämmerte, ich aß etwas von meiner eisernen
Reserve aus meinem Rucksack und schlief, in mich verknäult,
sofort ein. Mein tiefer Schlaf war eine Flucht, ein Abtauchen,
ein Mittel, die Konfrontation mit der Zukunft zu verschieben.
Ich brauchte eine Genesungszeit.
Traurig und widerwillig hatte ich damals meine Wehr-
machtseinheit verlassen, und jetzt, nach drei Jahren als Hit-
lerjunge in äußerlicher Normalität, aber ständigem Kampf
ums Überleben verspürte ich erstmals große Müdigkeit. Dabei
mußte ich doch gerade völlig neu beginnen, mich in einem
völ ig anderen Leben zurechtfinden. Ich wurde wieder zu einem
einzelnen, vom Baum abgerissenen Blatt, das der Sturmwind
forttrug, richtungslos, nicht wissend, wo und wann es auf
der Erde landen würde. Ich war erschöpft und verzagt. Mein
Tiefschlaf war der einzige Ausweg.
Aber ich hatte noch einen Funken Hoffnung. Die Über-
zeugung, daß sich auch in Zukunft alles irgendwie richten
würde, war nicht ganz geschwunden und genügte, daß ich
am Morgen aufstand, um den neuen Tag zu begrüßen und
einen neuen Anfang zu machen.
Ich erinnerte mich an eine Braunschweiger Freundin, die
in der Nähe wohnte. Wir waren früher manchmal zusammen
ausgegangen, und ich beschloß, sie aufzusuchen. Ich stieg
die Holztreppe ihres Hauses empor und klopfte an die Tür.
Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und sie
vorsichtig den Kopf heraussteckte. Sie freute sich, mich zu
sehen, fragte, wie es mir ginge, und entschuldigte sich, mich
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nicht hereinbitten zu können, da sie Besuch von einem Freund
habe. Sie forderte mich auf, nachmittags wiederzukommen.
Durch die halboffene Tür sah ich eine nachlässig auf einen
Stuhl geworfene Uniform. Ich verstand, daß es ihr peinlich
war und ging sofort wieder. Ich war erstaunt und konsterniert:
Du? Und so schnell?
Ich nahm mir vor, nachmittags Frau Latsch und ihre Tochter
Leni zu besuchen. Einstweilen kehrte ich in meine Unterkunft,
das verlassene Arbeiterlager zurück. Auf dem weiten Gelände
traf ich auf einige Polen und Russen. Einer sagte zu seinen
Begleitern: »Sieh dir diesen Deutschen an, der hier herum-
streicht!« Drohend und Beschimpfungen ausstoßend kamen
sie näher. Ich versuchte, ihnen auf russisch verständlich zu
machen, daß sie sich täuschten, ich kein Deutscher, sondern
Jude sei. Wie aber sollten und konnten sie das glauben, wo
ich, Sally, doch immer noch in Jupps Uniform herumlief? Sie
verprügelten mich, obwohl ich schrie: »Ich bin Jude!« Schließ-
lich konnte ich davonlaufen.
Im Stadtzentrum wol te ich mich stärken und auf dem Rat-
haus die Lebensmittelkarten abholen, die mir zustanden. Die
Hauptstraße, in der
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