Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
jetzt anders vor. Er befiehlt, wie ein
Chef. Heute abend muß ich auf der Hut sein. Nicht schlafen. Das vor allem
nicht. Ich muß wachsam sein, damit er nicht in mein Zimmer kommt.
    Mama wird sich früh schlafen legen, wie
üblich. Sie schläft immer vor allen anderen. Sie ist überhaupt nicht wie er.
Ich bin sicher, sie verstehen sich nicht. Manchmal möchte man meinen, daß sie
ihm böse ist. Vielleicht hat sie auch Angst vor ihm. Er hat sie geschlagen, als
er in diese andere Frau verliebt war. Trotzdem sagt sie uns ständig, man müsse
gehorchen. Papa hat immer Recht. Er sagt: »Schminke ist ordinär. Ich will
nicht, daß meine Töchter sich schminken. Das tun Mädchen, die unsittlich sind
und keine Erziehung haben. Ich habe es gern, wenn eine Frau natürliche
Schönheit besitzt. Wenn ich eine von euch eines Tages mit schwarzumrandeten
Augen oder Lippenstift erwische, gibt’s eine Tracht Prügel!«
    Erziehung, daß ich nicht lache! Ich
hasse ihn, und wie ich ihn hasse!
    Ich räume in aller Eile den Tisch ab,
weil Mama sich schon schlafen gelegt hat. Sie nimmt ein Schlafmittel. Sie ist
sehr nervös und hundemüde. Keine Mama mehr ab neun Uhr abends. Kein Fernsehen
mehr nach den Nachrichten. Ich gehe schnell auf mein Zimmer. Ich werde mich in
den Kleidern schlafen legen. Und ich werde auf der Hut sein. Falls er kommt,
werde ich sagen, ich sei krank. Er kann mich nicht belästigen, wenn ich krank
bin.
    Und wenn ich abhaue? Ich könnte
ausreißen, mit einem Koffer und meinen Sachen. Aber ich weiß nicht, wo ich
hingehen soll. Ich habe Angst, nachts ganz allein herumzulaufen. Wo schlafen?
Wenn ich mich bei Tante Marie in Sicherheit bringe, wird man mich dort holen.
Wohin geht man, wenn man ausreißt? In jedem Fall setzt man dein Foto in die
Zeitungen, und die Polizei findet dich. Ich werde auf der Hut sein. Ich bin auf
der Hut. Ich höre ihn in der Wohnung hin- und hergehen. Er holt sich aus dem
Kühlschrank etwas zu trinken. Er wird sich irgend etwas im Fernsehen anschauen.
Nein, er geht ins Badezimmer, um sich auszukleiden. Er wird seinen braunen
Bademantel anziehen. Den haben wir ihm zum Vatertag geschenkt, meine Schwester,
mein Bruder und Mama. Er trägt ihn ständig. Wir haben uns über das schöne
Geschenk gefreut. Er geht ins Wohnzimmer zurück. Ich höre nichts mehr.
Wahrscheinlich raucht er vor dem Fernseher Gauloises.
    Es ist spät. Der Mickymaus-Wecker
ertönt im Zimmer. Kein Lärm mehr. Lieber Gott, mach, daß er schlafen geht!
Wieder flehe ich den lieben Gott an. Ich kann nicht umhin, ihn um Dinge zu
bitten. Laß den lieben Gott fallen. Ich werde ganz fest denken: »Geh schlafen
und laß mich in Ruhe.« Wenn ich das die ganze Zeit über denke, wird es gehen.
    Ich bin eingeschlafen, ohne es zu merken.
Er ist da. Er zieht mich aus dem Bett, ich verstehe nicht, was er sagt. Wir
sind im Badezimmer und er spricht immer weiter, er wirkt ärgerlich. Ich muß
erst ganz aufwachen, aber ich kann kaum die Augen offenhalten. Was machen wir
im Badezimmer? Wieviel Uhr ist es? Ich habe nicht gut genug aufgepaßt.
    Er ist verrückt. Er steht ganz nackt
vor mir. Ein Vater darf sich nicht nackt vor seiner Tochter zeigen.
    »Zieh das aus!«
    »Ich möchte schlafen, Papa. Was ist
los? Was willst du?«
    »Zieh die Kleider aus, hab ich dir
gesagt! Willst du wohl gehorchen, ja oder nein?«
    Es geht wieder los. Er haßt mich. Er
ist böse. Er ist wieder sauer auf mich.
    »Ich habe nichts Böses getan, Papa...
laß mich schlafen gehen.«
    Nichts zu machen. Ich muß meine Kleider
ausziehen. Mein Nachthemd und die Hose, die ich darunter anbehalten hatte. Er
ist verrückt geworden, mein Vater, er steht ganz nackt vor mir. Wir sind hier
drin eingeschlossen, er hat die Tür verriegelt. Man erstickt fast. Ich schaue
in seine Augen. Unablässig. Ich weine so sehr, daß er mich in Ruhe läßt.
    »Hör auf zu heulen.«
    Er hat seine Hand auf meine Schulter
gelegt. Und ich möchte ganz viele Hände haben, um mich zu verstecken. Ich fühle
seine auf meiner Schulter wie ein Stück Eis. Er ist merkwürdig ruhig. Furchtbar
ruhig. Dieser Kerl ist ein Ungeheuer.
    Nur mit Mühe gelingt es mir, diese
Szene zu beschreiben. Mit Mühe, weil ich sie zu deutlich vor mir sehe. Es kommt
mir vor, als läge alles weit zurück und ist gleichzeitig ganz nah. Als wäre es
gestern. Ich weiß warum. Man hat mir oft gesagt, daß ich noch nicht genug
Abstand habe, um es aufzuschreiben. Ich bin zu jung, erst neunzehn. Und ich
erzähle Ihnen, was mir geschehen ist,

Weitere Kostenlose Bücher