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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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mögen, was du gesagt
hast. Laß mich ins Bett gehen.«
    Er antwortet nicht. Er sieht natürlich,
daß ich Angst habe, daß es mir weh tut, und er schert sich einen Dreck drum. Er
hat irgend etwas im Sinn, und ich beginne, es zu ahnen. Vage, aber ich komme
wieder zur Besinnung, weil ich verstehe. Er wird etwas Schlimmes tun, er starrt
mich so merkwürdig an, ohne sich zu rühren. Man möchte meinen, er wird
hochschnellen und wartet auf den richtigen Augenblick. Er ist groß. Nie ist er
mir so groß erschienen, mit breiten Schultern, er nimmt in diesem kleinen
Zimmer den ganzen Raum ein. Ich weine nicht mehr, ich lauere, ich sehe alles
sehr deutlich. Die Brille mit dem Stahlgestell, die Augen schwarz, wie die
Haare, der harte, böse Gesichtsausdruck. Die Tätowierungen auf seinen
Schultern. Ein Degen auf der einen, ein Tier auf der anderen Seite. Das hat er
sich vor langer Zeit im Gefängnis angebracht, als er jung war; er ist stolz
darauf. Er hatte ein Leben vordem, das ich kenne, ein mysteriöses Leben.
    »Bestraf mich nicht! Ich hab’ nichts
getan. Verzeih mir bitte, Papa. Willst du, daß ich dich um Verzeihung bitte?
Sag...«
    Ich erinnere mich nicht mehr sehr gut
daran, was ich in diesem Augenblick stammelte. Ich bat um Verzeihung für etwas,
was ich nicht begangen hatte. Ich flehte ihn an, mich nicht zu bestrafen. Mich
ins Bett gehen zu lassen. Ich muß zehnmal wiederholt haben, daß ich ins Bett
gehen wollte.
    Meine Brust war ganz rot von den
Schlägen und mein Magen verkrampft von einem ungeheuer starken Brechreiz, den
ich die ganze Zeit hatte. Aber ich erinnere mich an seine glückliche Miene.
Daran ja. Weil er wußte, was er mir antun würde. Er dachte schon daran. Ich
natürlich nicht. Alles, was ich verstand, war das Irreparable der Sache, ohne
das Wort irreparabel beim Namen nennen zu können. Wenn man Kind ist, vermischen
sich die Gefühle, überstürzen sich die Emotionen mit solcher Schnelligkeit, daß
man meint zu taumeln.
    Man hat mich seither oft gefragt, warum
ich nicht geschrien habe, warum ich nicht versuchte, mich in Sicherheit zu
bringen, mich zu wehren, ihn zu schlagen. Leute, die solche Fragen stellen, tun
das, weil sie so etwas nicht erlebt haben.
    Als ich einen Vater hatte, noch am Tag
vor jener Nacht, war er streng. So streng, daß sogar meine Freundinnen es oft
bemerkten. Man stellte nicht in Zweifel, was er sagte, was er befahl. Was er
wollte, wurde von meiner Mutter wie von uns drei Kindern nicht in Frage
gestellt. Ich wußte undeutlich, daß er in seiner Jugend im Knast gesessen
hatte, aber das machte ihn für mich nur noch stärker. Die Geschichte eines Abenteurers.
Ich wußte auch, daß er arm und ohne Geld gewesen war und daß er es ganz allein
zuwege gebracht hatte, welches zu verdienen. Auch das bewies seine Stärke. Er
war eben stark. Er hatte sämtliche Rechte über uns. Außerdem liebte ich ihn
wirklich sehr, ich bewunderte ihn, diesen Schuft. Ich konnte nicht wissen, daß
er ein Sadist war, vollkommen gestört auf sexuellem Gebiet. Daß er sein
Geschlecht für das Mächtigste auf der Welt hielt. Ich las damals Mickymaus. Ich
zeichnete Prinzessinnen in goldenen Kleidern, ich fragte mich, ob ich eines
Tages schön sein würde, ich begann nur, meine Brust zu verstecken. Ich war ganz
stolz, als man mir sagte, ich wäre schon eine kleine Frau. Ich wußte nicht, was
das hieß, eine Frau in Kleinformat, eine Puppe zu sein, die von ihrem Vater
eines Nachts in aller Seelenruhe auf eine Waschmaschine gesetzt und
vergewaltigt wurde. Selbst das Wort Vergewaltigung bedeutete nichts. Merken Sie
sich das gut. Werden Sie noch einmal zwölf Jahre alt. Da ist nichts als Angst.
Das Schmutzige, das Verderbte, das ahnt man. Und wenn es Sie überschwemmt, sind
Sie völlig baff, denn niemand hat Ihnen beigebracht, dagegen zu kämpfen, sich
dagegen zu wehren. Also steht man da, gelähmt, läßt es über sich ergehen,
fleht, weint, das ist alles, was man tun kann. Was sollte man mit zwölf Jahren
schon anderes tun, als den lieben Gott oder seinen Vater um Hilfe zu rufen? Und
der liebe Gott verschwindet zur selben Zeit wie der Vater. Was bleibt, ist die
Lautlosigkeit des Grauens, das über den Körper kommt, mit den unbekannten
Händen, die einen beschmutzen.
    Das Schlimmste ist die Scham. Kennen
Sie die Scham? Die wahre Erniedrigung? Die man empfindet, wenn man gegen den
eigenen Willen gezwungen wird, bei etwas mitzumachen, bei einer so
widerwärtigen Sache, daß man nie wagen wird, zu wem auch immer

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