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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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als ich zwölfeinhalb war. Noch keine
dreizehn. Ich war ein kleines Mädchen, das nichts von all dem begriff, was ihm
geschah. Es ist wahr, ich begriff nichts. Aber ich hatte Zeit genug, um zu
verstehen. Und vor allem hatte ich Zeit genug, um zu sehen und eine gehörige
Portion mitzubekommen. Deshalb schreib ich’s auf, versuche ich aufzuschreiben,
was ich mit zwölfeinhalb gesehen habe, was sich im einzelnen abgespielt hat.
Wie ein Film. Weil ich will, daß SIE es sehen, wie ich’s gesehen habe. Was mir
in diesem Badezimmer zustoßen wird, ist der Horror. Jede Bewegung, jede Geste
habe ich auf ewig in mein Gedächtnis eingeprägt. So ist das. Es wird nie mehr
daraus verschwinden, es ist unauslöschlich. Was ich Ihnen erzähle, wird Ihnen
den Atem nehmen, wird Ihnen Schauer über den Rücken laufen lassen. Es wird sie
anekeln. Aber ich verbiete Ihnen, das Buch zur Seite zu legen. Sie haben kein
Recht wegzuschauen. Das wäre zu einfach. Sollte ich diesen ganzen Horror erlebt
habe, ohne daß Sie es zumindest erfahren?
    Das Tabu. Inzest. Sie wissen schon, die
Sache, von der niemand zu sprechen wagt. Die unter Ausschluß der Öffentlichkeit
abgeurteilt wird, wenn überhaupt, und dann in absolut unangemessener Form. Ich
will Ihnen nichts ersparen. Und Sie werden es nie in Ihrem Leben vergessen
können, genauso wie ich. Wie all die anderen zerstörten, kaputten Kinder.
    Ich spüre die Kraft, die Wut, das Feuer
und die Härte in mir, um es aufzuschreiben.
    Während ich das schreibe, kommt mir der
Gedanke, irgendein Vater könnte vielleicht lesen, was ich schreibe. Ein
Dreckskerl, der in diesem Moment mit seiner Tochter dasselbe macht. Ich will
ihn in dieser Minute, in der er es liest, beleidigen. Ich will ihm in die
Fresse spucken. Er soll wissen, daß seine Göre ihn umbringen würde, wenn sie
könnte. Daß sie immer Lust haben wird, ihn umzubringen, ihn, den Schuft.
    Deswegen versuche ich, meine
Erinnerungen zusammenzutragen, und das ist schwer. Weil einem mit zwölfeinhalb
vor einem Schuft von Vater, der das tut, alles vor den Augen verschwimmt. Man
ist auf eine ekelhafte, schmierige, widerwärtige Art benommen. Man bringt es
nicht fertig zu reden, sich zu verteidigen. Der Dreckskerl sperrt einen in eine
Lautlosigkeit, in ein Gefängnis ohne Gitterstäbe. Unsichtbar. Hier drin, in
seinem Kopf, muß man sich ganz allein zur Wehr setzen, ohne etwas sagen zu
können. Ohne um Hilfe rufen zu können. Weil sich niemand darum schert. Die Welt
schaut unterdessen fern. Die Welt geht tanzen, essen, Feste feiern. Schaut, wie
Krieg geführt wird, diskutiert über Politik, regt sich über Albernheiten auf.
Und während dieser Zeit vergewaltigt ein Vater seine Tochter im Badezimmer, in
aller Ruhe. Ganz ungestört.
    Also lies gut, was ich schreibe, Du
Schuft von einem widerwärtigen Vater, der Du Deiner kleinen Tochter das antust
— Deinem Baby, dem kleinen Schatz, den Du in den Armen wiegtest, den Du im
Kinderwagen spazierenfuhrst, den Du auf Dein Knie nahmst, um ihn zu küssen. Der
Dich anbetete. Der es wundervoll fand, sich an Dich zu schmiegen, seine Nase in
Deinen Hals zu stecken. Deine Hand auf seinem Haar zu spüren. Das war
väterliche Liebe, die wahre. Schau Dir gut an, was Du daraus gemacht hast, Du
Dreckskerl. Heute spreche ich wieder mit der Stimme meiner zwölfeinhalb Jahre,
um Dir zu erzählen, was dieser Vater in jener Nacht, im Juli 1982, mit mir
gemacht hat. Während meine Mutter schlief, meine kleine Schwester ruhig in
ihren Kissen träumte. Ich will, daß Du die Gesten siehst, wie ich sie gesehen
habe. Und daß jede Dir in den Bauch fährt wie ein Messer. Das Dich
millionenfach ersticht.

3
     
    Er hat die Hand auf meine Schulter
gelegt, und jetzt schiebt er sie auf meine Brüste. Da liegt sie riesig groß,
breit, größer als ich. Die Tränen stürzen hervor, sobald ich sie gefühlt habe.
In meinem Inneren ist Qual und gleichzeitig Schrecken. Ich muß überlegen, damit
ich weiß, wie ich mich wehren soll. Aber die Panik gewinnt die Oberhand. Ich
fühle mich wie über einem Abgrund, eine Hand wird mir einen Stoß in den Rücken
geben, ich werde keinen Widerstand leisten können.
    Eine gute Weile bekomme ich kein Wort
heraus. Kein einziges kleines Wort, keine Barriere zwischen dem Ungeheuer und mir.
Ich muß Luft holen. Ich ringe nach Atem, ringe nach Atem. Dann gelingt es mir:
    »Was machst du? ...«
    Keine Antwort. Die Lautlosigkeit
erstickt den winzigen Raum. Hier gibt es nur eine Waschmaschine, ein
Waschbecken

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