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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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sehen Sie, ist die größte Gemeinheit. Sie
werden vergewaltigt, und man möchte Ihnen einreden, daß Sie es mögen, weil Sie
aus Angst nichts gesagt haben. Das ist für ihn ein geflügeltes Wort geworden.
Wenn ich nein sagte, selbst zaghaft oder weinend oder indem ich versuchte, ihm
zu entrinnen, wiederholte er die ganze Zeit: »Du hast es gemocht, kleines
verdorbenes Luder...«
    Das Resultat davon ist: Man weiß nicht
mehr, was daran stimmt. Weil in dem betreffenden Moment alles zusammenkommt:
Schuldgefühl, Angst, Scham. Heute weiß ich wohl, daß das nicht richtig ist. Ich
weiß auch: Ich wußte immer, daß ich es nicht mochte. Aber er redete es mir ein,
und ich wurde von ihm in die Enge getrieben. Zwischen Schlägen und
Schweinereien brachte er es hervor, und es war unmöglich, sich sauber zu
fühlen. Unmöglich. Dreckig, immer dreckig, dreckig, dreckig.
    Ich wurde dreizehn. Eine lausiger
Geburtstag. Sie haben einen Lebensmittelladen gefunden, fünfzig Kilometer
entfernt, in einem Dorf. Mama war begeistert. Sie glaubte, er würde ihr helfen.
Denkste. Ich sah natürlich, daß er mit ihrer Arbeit einverstanden war, um sie
noch mehr von mir zu entfernen. Wir würden umziehen, auch das war praktisch. Er
würde sich des Umzugs annehmen und ich ihm helfen.
    Es ist die erste hervorstechende
Erinnerung nach einem Jahr Vergewaltigung, abgesehen von jener Nacht, wo ich
versucht habe, ihn wegzuschicken. Ich bemerkte nicht, wie das Schuljahr
verstrich, ich habe keine Erinnerungen, außer an die Lastwagen, die mich von
Tod und Krankenhaus träumen ließen. Ich weiß auch nicht mehr, was für Kleider ich
trug, was ich tagsüber machte, in der Schule oder zu Hause. Ein Jahr.
    Wir ziehen um. Mama ist bereits dort,
um die neue Wohnung einzurichten, und ich bin ganz allein mit ihm, um Möbel und
Kartons aus der alten wegzuschaffen. Wir sitzen im Mercedes. Die Wagen Marke
Mercedes — sie sind für mich wie die Waschmaschinen. Ich ertrage sie nicht
mehr. Sein verdammter Mercedes war ein bevorzugter Ort, er konnte mich darin
mitnehmen und tun, was er wollte. Ich hörte ihn auch am Abend heimkommen. Das
Motorengeräusch war das Warnsignal für seine Rückkehr. Jedesmal wenn ich
einstieg, fragte ich mich, was passieren würde. An diesen Umzugstag erinnere
ich mich haargenau, als ob es ein Film wäre. Bild für Bild.
    Wollen Sie Bilder vom alltäglichen
Inzest? Da haben Sie sie! Schauen Sie sie sich genau an, wie ich. Sollten Sie
eines Tages sehen, wie sich ein kleines Mädchen mitten auf der Straße vor einen
Lastwagen stellt, bleiben Sie vielleicht stehen, um es zu fragen, warum es das
tut. Nicht nur, um es für verrückt zu erklären oder es anzuschreien oder ihm zu
sagen, es solle das nächste Mal besser aufpassen. Wie oft habe ich gehofft,
jemand möge mir eine einzige Frage stellen: »Sag mal, wer tut dir weh?«
    Niemand hat mir je diese Frage
gestellt. Ach so! Das habe ich vergessen. So etwas kann man nicht ahnen, nicht
wahr? Wozu sind Sie als Erwachsene denn sonst da? Hören Sie die Schreie in der
Stille nicht? Ahnen Sie die Wahrheit hinter den Lügen nicht?
    Ich war dreizehn, als er beschlossen
hat, auf eine höhere Stufe überzugehen. Mich zu vergewaltigen, genügte ihm
nicht. Er wollte mit mir »Liebe machen«. Ich war dreizehn, als er beschloß,
»seine Hure« aus mir zu machen. Der Unterschied ist subtil. Wie alle
Folterknechte ging er mit Wonne von der brutalen Gewalt zur Verfeinerung über.
Ich war gegen meinen Willen älter geworden. In der Furcht altern alle Kinder
schnell. Ob es sich um Krieg, um eine allgemeine Hungersnot oder persönlich
erlittene Gewalt handelt. Das hier ist eine Episode aus meinem privaten Krieg.
Eine Schlacht, die ich wiederum verloren habe. Die meinen Haß noch geschürt
hat.
    Er läuft eilig die vier Stockwerke des
Gebäudes hinauf, als erwarte uns eine Überraschung. Und ich gehe ganz langsam
hinauf. Ich weiß, daß ich die Überraschung bin. Ich möchte nicht zu früh ankommen.
Ich möchte überhaupt nicht ankommen.
    Die Wohnung ist leer, alles ist bereits
verpackt. Nur eine Matratze liegt noch auf dem Boden. Ich tue so, als sähe ich
sie nicht, ich gehe durch die anderen Zimmer. Ich mustere die Kartons, die
hinauszuschaffen sind. Ich habe nur einen Gedanken: So schnell wie möglich zu
meiner Mutter zu kommen.
    Mein altes Zimmer, wo das Kind in mir
gestorben ist. Die Blumentapete, der Abdruck des Etagenbettes an der Wand. Ein
Phantom möchte man meinen.
    Ich höre das Geräusch des

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