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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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verwende es seither, weil ich es als solches
empfunden habe. Ein Abkommen zwischen diesem Ungeheuer und mir. Zwischen diesem
Besessenen und mir, seiner Tochter, seinem Baby. Ein Lügenabkommen.
    Ich hatte mehr als einen Monat lang
gelogen, ich konnte ebensogut weitermachen, da der Schulanfang nichts änderte.
Letztendlich war das Lügen nicht sehr schwierig. Ich log stillschweigend. Ich
erzählte nicht, was sich abends abspielte, das ist alles. Deshalb hatte ich den
Eindruck, die ganze Zeit zu lügen, obwohl ich in Wirklichkeit kaum redete.
    Ich hatte in diesem ersten Trimester
schlecht gearbeitet. Er hatte beschlossen, ich sollte einmal pro Woche die
Rechnungen seiner persönlichen Buchführung erstellen. Das bedeutete, daß ich
einen ganzen Abend lang mit ihm eingeschlossen war.
    Wenn es allzu unerträglich wurde,
weinte ich in der Schule. Fragte man mich warum, behauptete ich, ich hätte
Liebeskummer. Ich muß in dieser Zeit für ein schönes Flittchen gegolten haben.
Deswegen hatte ich Liebeskummer! Die ganze Zeit erfand ich Jungen.
    Um den Unterricht, die Hausaufgaben
kümmerte ich mich überhaupt nicht mehr. Das kleine Genie war nicht mehr die
Beste in der Klasse. Ich wußte nicht einmal mehr, wer ich war, was ich tat.
    Unsägliche Verzweiflung mit den
wahnsinnigsten Einfällen, um da herauszukommen.
    Ich bin auf dem Gehsteig, ich schaue
auf den Zebrastreifen. Wenn ein Lastwagen kommt, werde ich hinüberrennen.
Besser ein Lastwagen als ein Auto. Ein Lastwagen zermalmt besser. Ich warte auf
den Lastwagen. Ich werde dann in einem Krankenhausbett liegen, und er wird mich
in Ruhe lassen. Er wird nicht mehr so tun können, als erkläre er mir ein
mathematisches Problem, und dabei meine Brust befingern. Er wird nicht mehr
dicht hinter mir stehend den Stoff der Geschichtsstunde lesen und dabei sagen:
    »Ich habe Lust auf dich. Ich habe Lust,
dich zu berühren, dich zu umarmen, dich zu streicheln.«
    Wenn der Lastwagen mich zermalmt, wird
man mich auf einer Trage in einen Krankenwagen schieben und ich werde weit weg
in ein Krankenhaus gebracht werden. Es wird schlimm sein. Vielleicht wird mein
Kopf ramponiert oder meine Beine gebrochen sein. Ich werde nicht aufwachen, man
wird mich lange dabehalten.
    Langsam gehe ich, meine Schultasche in
der Hand, über den Zebrastreifen; meine Freundin überquert ihn, und ich bleibe
in der Mitte stehen.
    Der Lastwagen bremst.
    »Bist du verrückt oder was? Hast du ihn
nicht gesehen?«
    »Heh, Kleine! Haben sie dir nicht
beigebracht, daß man bei Grün über die Straße gehen muß?«
    Ich gehe hinüber und meine Freundin
Suzanne klopft mir auf den Rücken.
    »Du hast mir Angst gemacht, du spinnst
wohl... paß jetzt aber auf.«
    So geht es nicht. Das hat nicht
geklappt. Wie kommt man ins Krankenhaus? Wie bringt man es fertig, zu sterben?
Ich will, von einem Lastwagen zermalmt, sterben.
    »Was hast du gesagt?«
    »Ich möchte von einem Lastwagen
zermalmt werden.«
    »Bist du meschugge oder was? Warum
sagst du das?«
    »Weil es stimmt.«
    »Machst du Witze?«
    »Nein.«
    Suzanne glaubt mir nicht. Ich warte
darauf, daß sie mich fragt, warum ich sterben will. Ich weiß schon, was ich
antworten werde: daß Pier rot mir erst nachgelaufen ist und daß er mich dann
fallengelassen hat. Sie fragt nicht. Mit einer Geste gibt sie mir zu verstehen,
daß ich plemplem bin, und erzählt es einer anderen Freundin. Elvira schaut mich
voll Bewunderung an.
    »Hast du keine Angst?«
    »Der Lastwagen bleibt ja immer stehen...«
    »Hast du das schon oft getan?«
    »Ein paar Mal...«
    »Und wenn er nicht anhält?«
    »Na, dann zerquetscht er mich.«
    Die Freudinnen mußten glauben, ich sei
ein bißchen übergeschnappt. Aber ich hatte wirklich Lust zu sterben. Am Rande
des Gehsteigs erfaßte es mich wie ein Taumel, eine furchtbare Verlockung. Ich
weiß nicht, ob ich damals aussprach, worum es wirklich ging: »Mich umbringen«.
Das Wort Selbstmord war nie als solches in meinem Kopf, und trotzdem war es
genau das. Ich sah mich nicht aus einem Fenster springen, das kam später. Mit
zwölfeinhalb wollte ich mich unter einen Lastwagen werfen, mich überfahren
lassen, damit man mich ins Krankenhaus bringt. Dort wäre ich meinem Vater
entronnen. Der Tod bedeutete nichts. Ich träumte von einem Bett mit Krankenschwestern
und Ärzten. Ein anderes Bett als zu Hause. Ein Bett ohne ihn. Ich wollte frei
sein. Ich wollte leben. FREI LEBEN. Zu dieser Zeit war mir nichts anderes
eingefallen, als vor einen Lastwagen zu

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