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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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wissen, was das ist: Inzest. Daß ein Vater Sie stundenlang
auspeitscht, weil Sie keinen Orgasmus bekommen. Sie wissen nicht, was das
bedeutet, nackt neben seinem nackten Vater zu liegen, vor ihm, unter ihm, ihm
ganz ausgeliefert.
    Schwarz auf weiß stehen die Worte in
diesem Buch, aber sie reichen nicht aus, damit Sie mich wirklich verstehen...
Wenn Sie am Schluß des Buches angelangt sind, wird Ihr Leben sich nicht sehr
verändert haben. Es wird alles nur ein bißchen in Ihrem Gedächtnis herumspuken.
    Aber mein Gedächtnis kann ich nicht
ändern. Mein ganzes Leben lang werde ich dieses Wort mit mir herumtragen.
Inzest. Unauslöschlich. Nichts kann es zum Verschwinden bringen. Kein
Lösungsmittel, keine Seife. Und wenn man sich die Haut herunterrisse, es ist
da, für immer sichtbar. Für mich, für Sie nicht.
    Wir können uns jetzt duzen, Du, Leser.
Du hast Dir Mühe gegeben, Du gefällst mir, Du hast Dich entschlossen, Dich
harten Fakten, keiner leichten Kost, auszusetzen. Das heißt, Du bist nicht
passiv geblieben, also bist Du mir sympathisch. Weil Du mitfühlend bist, denn
Du interessierst Dich ein wenig für mich. Wenn jeder wie Du wäre, gäbe es keine
geschlagenen, besudelten, vergewaltigten Kinder mehr.
    Ich träume von einer Welt ohne
Sadisten. Hilf mir. Jedesmal, wenn Du ein Kind siehst, schau es Dir gut an,
schließ es in Dein Herz. Hilf ihm, wenn es Dir seine ängstliche Hand
entgegenstreckt, gib ihm Liebe, wie man Brot gibt. Rette es aus seiner
seelischen Not, wie aus einer Hungernot. Tu’s, Du kannst es tun, denn Du bist diesem
Dreckskerl nicht ähnlich.
    Das Meer. Die Fischerboote, die milde
Luft. Ich habe keine Sorgen mehr, keinen Zorn, keine Ängste.
    In der hellen Wohnung erwartet uns eine
Katze, Gribouille. Und ein Freund von Chantal. Ein junger, fröhlicher,
überschäumender Mann, ein Matrose. Er erklärt mir den Lauf der Wellen.
    »Schau, wenn die siebente Welle kommt,
das ist die stärkste, die mächtigste, kannst du darauf springen wie auf ein
Pferd im Galopp, sie wird dich weit weg bringen.«
    Meine Schwester will sich die siebente
Welle aus der Nähe ansehen. Der kleine Bruder auch, ich möchte ganz ungestört
sein, an Bruno schreiben, mich ausruhen. So lange schon habe ich mich nicht
erholen können.
    »Los, komm schon! Du benimmst dich ja
wie eine alte Frau...«
    Ich bin alt. Ich könnte endlos
schlafen. Sie wissen nicht, daß meine Ferien für mich das Fehlen von Angst
bedeuten. Das Meer ist schön, doch ein sauberes Bett hunderte Kilometer
entfernt vom Grauen ist noch etwas Schöneres.
    Wir zählen die Wellen auf der
Schiffsbrücke, vier, fünf, sechs, sieben, und die siebente peitscht uns mit
voller Wucht ins Gesicht. Ich laufe mit ihr mit, ich bespritze mich mit
Freiheit, mit Glück. Das Meer hat eine gute Seele. Der Himmel hat mich
fallenlassen, aber ich habe das Meer gefunden. Es hat mich verstanden, es
reinigt mich von Grund auf, rollt mich in den Sand, macht mich so blau, wie es
selbst ist. Es ist mein wiedergefundenes Paradies.
    Wenn ich für immer hier bleiben könnte,
in diesem blauen Wasser, würde ich mich sauber fühlen.
    Wenn ich wieder auf den Boden
zurückkomme, die Straße, die Wohnung, das Bett wiederfinde, das mich erwartet,
finde ich auch den Schmutz wieder.
    Gaukelspiel der Wellen. Ich bin immer
noch die schmutzige Nathalie. Die sich wäscht, sich wie wahnsinnig unter der
Dusche abreibt, bevor sie sich in ein sauberes Bett legt. Um das wenigstens
nicht zu besudeln.
    Chantal kommt in das Zimmer, das sie
mit mir teilt, und schaut mich merkwürdig an.
    »So willst du schlafen? Ganz
angezogen?«
    »Das ist eine Angewohnheit von mir.«
    »Aber hier ist es warm... das ist doch
lächerlich.«
    »Ich friere leicht, ich schlafe immer
so. Daran kann ich nichts ändern.«
    »Hör mal, Nathalie, es ist nicht
gesund, so zu schlafen.«
    »Ich bin müde.«
    »Zieh wenigstens deine Jeans aus.«
    »Nein, nein. Das geht so. Ganz sicher...
Schlafen wir. Ich bin müde.«
    Ich schließe die Augen, damit sie
aufhört. Zum ersten Mal sieht jemand, daß ich vollständig angekleidet schlafe.
Zunächst will sie noch etwas hinzufügen, findet mein Verhalten sonderbar,
möchte es verstehen. Ich bin nicht zu Hause. Er wird nicht in der Nacht
auftauchen, mich nicht mit seinen großen widerlichen Händen berühren, und
trotzdem habe ich Angst. Ich muß mich schützen.
    »Gute Nacht, Nathalie, träum was
Schönes...«
    Diese Woche ist so schnell verstrichen;
am Vortag meiner Abreise hatte ich das

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