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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Gefühl, aus einem Koma zu erwachen.
Nizza, Antibes, Cannes, Juan-les-Pins, überall das Meer, die siebente Welle,
die mich mit sich fortriß wie ein Pferd im Galopp. Aus. Zurück zu dem
verdammten Kerl.
    Chantal hilft mir, meinen Koffer zu
packen. Sie ist nachdenklich.
    »Weißt du, als ich dich das erste Mal
bei dir zu Hause sah, fand ich dich kalt, fast mürrisch. Du schienst auf alle
böse zu sein. Ich glaube, heute geht es dir besser.«
    »Ich weiß. Manchmal ist mir nicht
bewußt, was für ein Gesicht ich mache. Deswegen bleibe ich für gewöhnlich
lieber allein, auf diese Weise stört mich niemand, und ich gehe auch niemandem
auf den Wecker.«
    »Du hast dich bei uns doch wohlgefühlt,
oder?«
    »Wenn ich könnte, würde ich bleiben.
Wenn ich könnte, würde ich nie mehr dorthin zurückkehren.«
    »Was sagst du da? Dort — das ist doch
dein zu Hause, deine Familie! Sie lieben dich. Dein Vater hat dich jeden Abend
angerufen.«
    »Um ein Uhr morgens, willst du wohl
sagen... Das nenne ich nicht Liebe. Übrigens fehlt mir die nun überhaupt nicht...«
    »Sag so etwas doch nicht, Nathalie, du
liebst deinen Vater, dessen bin ich sicher. Du mußt dich freuen zurückzufahren.
Hier warst du in den Ferien.«
    »Verlange nicht von mir, daß ich mich
freue. Wenn ich achtzehn bin, hau’ ich ab. Ich komm’ hierher zurück. Ich ertrag’
das Leben dort nicht mehr. Hilfst du mir, wenn ich zurückkomme?«
    »Natürlich, aber sag mal, warum
eigentlich?«
    Es ist das erste Mal, daß ich so
ausführlich darüber rede. Auch das erste Mal, daß jemand wirklich mit mir
spricht, wahrhaftige, ernsthaft freundschaftliche Worte an mich richtet.
    Meine Schwester kommt ins Zimmer, und
ich verstumme. Ich habe ja sowieso schon zuviel gesagt.
    Am 29. Dezember 1988 werde ich achtzehn
Jahre alt sein. Das ist noch weit. Etwas mehr als ein Jahr Gefängnis muß ich
noch durchstehen. Ein Jahr Gefängniszelle.
    Aber da ist Bruno und die Hoffnung.
Aber da ist Chantal, meine Freundin, das Meer und die siebente Welle, die mir
helfen werden zu entkommen.
    In einem Jahr werde ich allen Ernstes
meine Sachen packen. In einem Jahr werde ich meinen Weg allein gehen, wird er
mir nichts mehr antun können, werde ich das Recht auf meiner Seite haben. Und
werde im Vollbesitz meiner Kräfte sein. Ich will nicht mehr sterben, nie mehr.
Acht Tage lang habe ich erfahren, was Leben bedeutet. Ich weiß jetzt, wie das
wahre Leben ist. Ich werde es nicht loslassen! Unterdessen werde ich mir Überlebenspläne
ausdenken. Meine Verlobung mit Bruno ist der erste Plan. Der Ring kümmert mich
wenig, mir geht es ums Prinzip. Offiziell zu einem Mann gehören. Gemeinsam
haben wir das Datum, den Mai 1987, festgelegt, das ist in einigen Wochen.
Danach werde ich durchhalten, ich werde bis zum Dezember 1988 meinen Mund
halten. Das macht dann fünf Jahre Knast. Im voraus bezahlt. Die Hauptsache ist,
daß Mama, meine Schwester und mein Bruder keinen Schaden erleiden. Daß der ganze
Dreck nicht vor mir an die Oberfläche kommt. Daß er mich nicht vor aller Augen
beschmutzt. Reden, die Dinge aussprechen, anklagen — das heißt, mich selbst
anklagen. Ich muß allein damit fertig werden. Muß mein eigener Richter sein und
ihn verurteilen. Und abhauen.
    Ich war noch keine siebzehn, und ich
wußte nicht, daß ich viel früher reden würde. Ich hatte vorgehabt, zu fliehen
und zu schweigen. Ich glaubte, es durchhalten zu können und auf diese Weise da
herauszukommen. Auf welche Weise? Was weiß ich! Aushalten, so hieß die Parole.
Ein Langstreckenlauf, ein verdammter Marathon, mit einer Ziellinie in Form
eines Happy Birthday Nathalie, blas die Kerzen aus, und mach dich mit deinem Verlobten
davon, spring auf die siebente Welle, ertränk dein Geheimnis im Meer. Erstick
daran für alle Zeiten.
    Kindisch. Ich weiß. Widersprüchlich.
Nur die Wahrheit wäscht rein, wenn überhaupt... und auch dann nicht wie
Kristall.

13
     
    Mama empfängt uns mit grauem Gesicht
und einem traurigen Lächeln. Sie scheint innerlich gebrochen, wie eine
mechanischen Puppe, die nicht mehr funktioniert. Er hat ihr diese Woche
sicherlich das Leben zur Hölle gemacht. Er braucht ständig ein Opfer, ich war
nicht da, also hat er sie genommen. Ich sehe es genau, ich kann die stumme Qual
jetzt erkennen. Seit Jahren schon verstehen sie sich nicht, und seit Jahren
erträgt sie ihn wegen uns. Es ist zu blöd.
    »Mama...«
    Mama... Mama, gequältes Herz, ich
tröste sie mit meinem Glück aus einer Woche Freiheit. Alles ist

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