Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
Vom Netzwerk:
falsch, nie
wird etwas ausgesprochen. Aber ich habe noch etwas, einen Riß, den ich vom Meer
mitbringe. Bis jetzt habe ich mir mehr schlecht als recht einen Panzer des
Widerstands zurechtgezimmert, aber dieser kleine Trip hat ihm einen Knacks
gegeben. Wenn man einen Tropfen Freiheit gekostet hat, möchte man die ganze
Flasche. Sie drückt uns alle drei an sich. Glücklich, uns wiederzuhaben,
unglücklich über dieses Glück, das wir ohne sie erlebt haben. Sie sammelt uns
um sich, wir sind die Teile im Puzzle, die ihr fehlten. Ich verstehe besser,
was ich wiederholt in der Schule sage, und zwar allen, die mich seit Jahren
befragen. Wenn ich erkläre: »Meine Eltern verstehen sich nicht, meine Eltern
streiten sich«, so weiß ich nicht im einzelnen, wovon ich rede. Heute, im Licht
dieser Rückkehr, betrachte ich die Katastrophe ihrer gescheiterten Ehe, die
sich auf ihren tiefen Augenrändern, ihren vor Unglück zusammengekniffenen
Lippen abzeichnet.
    Ich höre, wie in der Küche nach meiner
Schwester gerufen wird. Gerufen, nein gebrüllt:
    »Sophie, mach einen Kaffee, aber dalli!«
    Hitler bereitet uns seinen Empfang. Er
übernimmt wieder die Herrschaft über seine Haussklaven. Lieber Gott, wenn ich
meine Reisetasche wieder nehmen und unter dem Stacheldraht hindurch entwischen
könnte.
    Jetzt schreit er schon wieder im
Garten, diesmal nach meinem Bruder. Der Kleine bekommt einen Tennisball an den
Kopf. Wozu dieser Tobsuchtsanfall? Es sieht so aus, als hätte seine kleine
Truppe ihm wie eine Droge gefehlt, als hätte er seinen Ärger aufgestaut und
reagierte ihn nun auf einen Schlag an uns ab. Seit einer Woche hat er uns nicht
gesehen, und alles, was ihm einfällt, ist, seinem Sohn einen Tennisball an den
Kopf zu schleudern.
    Er ist verrückt. Er ist ein
Geisteskranker, der interniert gehört.
    Ich sehe ihn von hinten, wie er in der
Küche sitzt, ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, noch nicht einmal »Guten
Tag, Papa« gesagt... Meine Schwester gießt ihm Kaffee ein, er trinkt einen
Schluck, spuckt ihn wieder aus und schreit:
    »Ihr nervt mich! Ihr seid alle
vollkommen verblödet! Noch nicht mal fähig, einen richtigen Kaffee zu kochen!
Schon das ist zuviel verlangt!«
    Ich habe Lust, ihm die Kaffeekanne an
den Schädel zu werfen. Statt dessen sage ich in einem ruhigen und überlegenen
Ton: »Hör mal, Papa... ich werde dir einen anderen machen, aber reg dich ab,
ja?«
    Ich stelle die Tasse vor ihn hin, ich
sehe ihn mit dem schmutzigen Vergnügen des Ekels trinken. Mein Kaffee ist gut,
du Dreckskerl. Trink ihn und krepier.
    Ich renne in mein Zimmer, um meine
Nerven zu beruhigen. Chantal, meine Freundin, meine Freiheit, ist sprachloser
Zeuge dieser Heimkehr. Ich hoffe, sie versteht, was ich versuche, ihr
mitzuteilen.
    »Siehst du? Siehst du, wie er ist?«
    »Weine nicht, beruhige dich doch, er
ist gereizt, das passiert jedem mal. Hör auf zu weinen, das bringt nichts.«
    »Es ist immer so. Verstehst du? Nein,
du kannst das nicht verstehen. Ich hab’s satt. Bis oben hin.«
    »Das wird sich geben... weine nicht. Es
ist sicher nicht leicht, er ist ein schwieriger Mensch, aber bald bist du
volljährig, die Sachlage ist dann anders, und du kannst mich in meinem Haus
besuchen.«
    »Ich kann ihn nicht mehr ertragen. Ich
will hier nicht mehr leben, ich schwör’s dir, ich will nicht mehr.«
    »Na, na...«
    Sie wiegt mich in ihren Armen, tröstet
mich wie ein kleines Kind. Stellt keine indiskreten Fragen. Von neuem schließt
sich die Eiterwunde. Ich werde wieder ruhig. Keinen Mut, den Eiter
herauszubringen, der mich vergiftet. Er würde alle zur selben Zeit wie mich
vergiften.
    Banalitäten. Das ist alles, was man von
sich gibt, selbst im schlimmsten Unglück. So etwas wie: »Ich kann nicht mehr,
ich möchte verschwinden, er ist saublöd.«
    Man braucht sich also nicht zu wundern,
daß man darauf andere Banalitäten zur Antwort bekommt, wie: »Das wird
vorübergehen... Das kann nicht lange andauern.«
    Chantal ist zu Meer und Sonne
zurückgekehrt, zu ihrer Freiheit. Ich befand mich wieder im Gefängnis, dieses Mal
mit der Gewißheit, daß ich nicht allein darin war. Meine Mutter ebenso. Wenn
man Kind ist, weiß man nicht, was sich tatsächlich zwischen seinem Vater und
seiner Mutter abspielt. Ich wußte nicht, daß sie dieselben Mißhandlungen
erduldete wie ich. Genausowenig, wie sie von den meinen wußte. Dieser
Wahnsinnige hatte zwei Frauen in seiner Gewalt, wie ein Pascha in seinem Harem.
Zudem hatte er es geschafft,

Weitere Kostenlose Bücher