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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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ganze Arbeit.
    Und alle freuten sich, alle klatschten
ihr Beifall, der Künstlerin. Die Künstlerin mußte nur zwei Nächte durchhalten.
Was sind schon zwei Nächte? Gar nichts...
    Ich habe durchgehalten. Die Künstlerin
hat ihre ganze Arbeit geleistet. DIE GANZE.
    Und als ich am folgenden Dienstag meine
Reisetasche in Chantals Auto untergebracht hatte, war ich — was soll ich Ihnen
sagen — stolz auf mich. Ich hatte mir meine Woche am Strand, in der Sonne
verdient. Ich würde allein und in Ruhe schlafen können, ohne die Angst zu
hören: »Zieh dich aus«, und all das andere. Mit Qual und Ekel hatte ich mir ein
bißchen Glück verdient. Wie eine Prostituierte das Geld für ihre Miete oder das
Essen für ihre Kinder verdient oder den Alkohol, der sie vergessen läßt, wer
sie ist. Ja, ich war stolz, glücklich, glücklich, glücklich, verflixt noch
einmal! Dank dieser Frau. Sie mochte mich gern, ich sie auch. Ich betrachtete
ihre schwarzgelockten Haare, ihr hübsches Kostüm, ihr strahlendes Lächeln, ihre
Lässigkeit. Ich wurde ungeheuer vergnügt. Zum ersten Mal in meinem Leben entkam
ich dem Stacheldrahtzaun meines Lagers, meinem Folterknecht, eine Woche lang
würde ich leben... Armseliges Geschöpf auf der Autobahn zur Sonne...
    Und weit weg, im Licht, am Fernziel
meiner endgültigen Flucht, stand mein Verlöbnis mit Bruno im Mai 1987, mein
Ausbruchsticket.
    Im Augenblick erfaßte mich eine Art
hinterlistige Ruhe, ein unglaublicher Wille, die bösen Stunden, die bösen Leute
aus meinem Kopf zu scheuchen.
    Wir fuhren fünf Stunden lang, und
jetzt, zum ersten Mal auf der Straße zur Freiheit, habe ich wieder an meine
Selbstmordabsichten gedacht. Ganz klarsichtig. Warum mich umbringen? Das Leben
beenden? Warum meines und nicht seines?
    Ich sah mich, wie ich einige Monate
zuvor dagestanden hatte, mit einem Messer in der Hand, irgendeinem Messer, alle
Messer waren mir recht. Die aus der Küche, die nicht scharf waren, das vom
Wurstregal, selbst das für die Butter, ein völlig ungefährliches. Mir genügte,
daß sie eine Klinge hatten. Ich sehe mich an dem Tisch sitzen, mit
übereinandergeschlagenen Beinen, eine Serviette über den Knien, mit einer
märchenhaften und weit entfernten Musik im Kopf, die meinen Geist betäubte, und
intensiv an den Tod denken. Den Tod, den man nicht kommen sah. Der einen
überrascht, der einem an der nächsten Straßenecke auflauert. Ich wartete auf
einen Tod, der nicht kam. Er mochte mich nicht, dieser Tod, er verabscheute mich,
er hatte keine Lust, sich um meinen Fall zu kümmern. Und das, obwohl ich ihn
anflehte; ich warf mich auf die Knie, damit er verstand, daß ich ihn brauchte.
Er mußte mir zu Hilfe kommen, er mußte mich töten.
    Jedes Mittel war mir recht, ich
brauchte sie dringend, die hilfreiche Hand des Todes. Wir mußten krepieren, uns
da oben wiederfinden. Da oben würde ich mich seiner annehmen können, es ihm
heimzahlen. Ich lebte beständig mit einer inneren Stimme, die vom Tod sprach.
Millionen Stimmen in einer einzigen, die alle gleichzeitig sprachen, und
Millionen Messer schrien mir zu: »Töte ihn, töte ihn.«
    In dem Auto, das mich in die Ferien
fuhr, frei, frei, so daß mir die Lungen bersten, habe ich zum letzten Mal den
Kopf geschüttelt, damit das ein für allemal aufhört. Nein. Ich wollte weder
sterben noch an seiner Stelle bestraft werden. Ja, das Übel kam von seiner
Seite, nicht von meiner.
    Endlich hatte ich Klarheit im Kopf,
Schluß mit der Feigheit, den Selbstmordabsichten, der Unterjochung. Ich war
nicht mehr allein auf der Welt, ich hatte eine Hoffnung: Bruno
    Ein Ziel: meinen Vater töten.
    Auf der ganzen Strecke hatte ich nur
diesen Gedanken im Kopf. Meinen Vater töten. Ganz dicht neben ihm stehen, eine
feine und lange Klinge in ihn stoßen und sie in alle Richtungen drehen. Ihn
quälen, so wie er mich gequält hatte. Ihm alles herausreißen, so wie er mir
meine Jungfräulichkeit entrissen hatte, meinen Körper, meine Reinheit, meine
Kindheit. Ihn nächtelang vor Schmerz und Qual brüllen hören. Ihn in einem
Keller einsperren, um ihn zu foltern, damit alle seine Schreie hörten, da
niemand meine gehört hatte.
    Das war mein sadistischer Traum. Dahin
also brachte mich eine Woche Freiheit in der Sonne, eine Woche weit weg vom
Henker.
    Ich hatte einen einzigen Freund, das
Messer, den Gedanken an das Messer, alle Messer der Welt. Das Messer ließ mich
nicht im Stich, es ließ mich nicht fallen.
    Erschreckt Sie das? Dann deshalb, weil
Sie nicht

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