Ich war zwölf...
daß sie sich nicht untereinander verständigten.
Meine Mutter aus Scham. Ich aus einem Schuldgefühl heraus. Jetzt, da ich es
weiß, ist es noch schlimmmer. Aber was ist denn das Schlimmste? Ich ertrage
unaufhörlich das Schlimmste. Eine Erinnerung ist schlimmer als die andere.
10. Mai 1988, ein wichtiges Datum. Ein
Sonntag. Mamas Geburtstag. Sie hatte vorgehabt, zur Feier des Tages für den
Nachmittag Freundinnen einzuladen. Freudig machte sie sich an die
Vorbereitungen. Sie war frühmorgens aufgebrochen, um meinen Bruder zu einem
Judowettkampf zu bringen. Ich war allein im Haus. Bruno sollte an diesem Tag
wieder in seine Kaserne zurückkehren. Ein Monat ohne ihn. Ich putzte die Küche,
es war elf Uhr morgens. Ich war beinahe ruhig. Der Scheuerlappen, der
Schrubber, das Chlorwasser, ich putze gern. Einen Fliesenboden reinigen, ihn
zum Glänzen bringen, die geringste Spur von Schmutz entfernen, das wäscht mich
ebenfalls rein. Durch ein Fenster scheint die Sonne herein, der Geruch von
Sauberkeit ist eine Linderung.
»Mach mir meinen Kaffee, aber dalli!«
Er steht da, in seinem braunen
Bademantel, noch nicht richtig wach, dreckig, widerwärtig anzuschauen von all
dem, was in seinem Kopf vorgeht. Die dreckigen Hände, der dreckige Mund, der
schreit:
»Los, wird’s bald!«
»Kannst du nicht einen Moment warten,
der Boden ist noch feucht.«
»Machst du mir einen Kaffee, ja oder
nein? Ihr geht mir auf den Wecker in dieser Scheißbude!«
Man sieht ihm an, daß er die Nächte
schlecht verbracht hat, er muß Unmengen Joints geraucht, sich allein wie ein
Schwachsinniger in seiner Ecke seine Pornofilme reingezogen haben.
Meine Schwester sitzt auf einer
Treppenstufe, im Eingang, sie heult wie ein Schloßhund.
»Ich fühle so einen Stich im Herzen. Er
hat mich angeschnauzt, ich weiß nicht, warum.«
Sie zittert vor Erregung. Ich setze
mich neben sie ohne ein Wort zu sagen. Nicht antworten, nicht darüber sprechen.
Er ist da, vor uns, sitzt in der Küche, in seinem braunen Ding, vor seinem
verdammten Kaffee, in den er noch nicht einmal Zucker geben kann, dieser Wahnsinnige.
Wir müssen warten, bis Ruhe einkehrt.
Keinen Lärm machen, sich nicht beklagen. Das Maul halten. Immer das Maul
halten. Seit unserer Rückkehr bekommt er immer häufiger Tobsuchtsanfälle. Ein
richtiger Paranoiker. Jetzt schaut er uns an, wie wir auf dieser blöden Treppe
sitzen wie verlassene Hunde. Kein Mitleid für die Tränen meiner Schwester. Er
hat sie in seinen Harem einreihen wollen, sie hat ihn ein für allemal zum
Teufel geschickt, also wird sie stückweise bezahlen, ohne zu verstehen, warum.
Wir warten auf Mama, damit sie uns
erlöst. Wenn sie da ist, steckt sie es ein. So schützt sie uns am besten gegen
die Ausbrüche seines Wahnsinns. Niemand weiß, wodurch sie ausgelöst werden. Sie
entzünden sich immer an irgendeiner Dienstleistung. Denn wir stehen in seinen
Diensten.
»Was ist los?«
Mama hat sofort gemerkt, daß etwas
passiert ist.
»Ach, nichts! Er schreit wie gewöhnlich
wegen irgendwelchen Belanglosigkeiten herum...«
»Ich werde die Einladung absagen. Dafür
ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich will nicht, daß meine Freundinnen
ihn so sehen.«
Also auch sie schweigt vor den anderen.
Wir halten es geheim. Es ist scheußlich, das alles vor den anderen
auszubreiten. Eben all das... ihn, letzten Endes. Er ist die Scheußlichkeit,
die man vor den anderen verstecken muß, als wäre es unsere Schuld, mit ihm zu
leben.
Bruno kommt. Er will sich
verabschieden, mit uns zu Mittag essen, wie in einer normalen Familie. Wie ein
normaler Verlobter. Und plötzlich wird mein Vater ruhig. Wer hätte geglaubt,
daß er noch eine Minute zuvor alle verprügeln wollte? Vor Bruno, meinem Bruno,
spielt er die Komödie des ruhigen Papas.
Kein entspanntes Mittagessen. Wir
versuchen alle, keinen neuen Ausbruch zu provozieren. Er befiehlt, wir
gehorchen. Allein die Tatsache, ihm die Wasserkaraffe zu reichen oder ein Stück
Brot ist eine Erniedrigung. Für uns, die Frauen. Bruno spürt die Spannung
nicht, mein kleiner Bruder vergißt sie, er ist noch zu klein, um länger als
fünf Minuten einen Gedanken an ein Drama zu verschwenden. Mittagessen wie im
schlechten Theater.
Jetzt empfängt er seine Familie, seine
Kumpels. Sie treffen alle auf einmal ein, die heimlichen Bewunderer des Nazis.
Seine Schwester, die ihn aufgezogen hat und ihn in den Himmel hebt. Seine
Freunde vom Pornoabend, von der Spritztour bei den Huren von Lyon.
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