Ich war zwölf...
Verlangen nach Revolte, das meine Mutter einige Augenblicke zuvor noch
beherrscht hatte, war ausgelöscht. Warum?
Ich bin aufgestanden, ich bin in sein
Büro gegangen. Ich habe das Konzept für den Brief gesehen. Ich habe mich
hingesetzt, ich habe den Brief getippt, ich habe ihn mit einer kurzen Bewegung
von der Rolle gerissen, in der Hoffnung, es zu zerreißen, aber das Papier war
zu fest. Also habe ich ihn auf seinen Schreibtisch geknallt. Innerhalb eines
Bruchteils einer Sekunde mußte ich mir etwas zu meiner Verteidigung, zu unserer
Verteidigung einfallen lassen. Er hat mich angestarrt, als wollte er mich mit
seinem Zorn hypnotisieren. Meine Knie zitterten, meine Kehle war wie
zugeschnürt, ich nahm meinen Mut in beide Hände und sagte:
»Was du heute getan hast, war
widerwärtig. Du wußtest, daß wir Mamas Geburstag feiern wollten. Aber dich hat
das einen Dreck gekümmert. Du bist wirklich ein Idiot, du widerst mich an.«
Ich muß das letzte Wort mehrmals
wiederholt haben. »Du widerst mich an, du widerst mich an, du widerst mich an.«
Mir fiel nichts anderes ein. Und er darauf: »Sprich nicht in diesem Ton mit
mir. Was bildest du dir eigentlich ein? Ihr vergiftet meine Existenz, ihr geht
mir auf die Nerven, verstanden? Andauernd seid ihr eingeschnappt, niemand zeigt
ein bißchen guten Willen in diesem verdammten Haus! Ihr werdet schon sehen, das
wird nicht so bleiben, ich bin hier der Herr, und ihr werdet das zu spüren
kriegen!«
Ich stand ihm zum letzten Mal in diesem
verfluchten Büro, seinem vermaledeiten Elfenbeinturm gegenüber. Ich war mir
dessen nicht bewußt, die Dinge nahmen schneller ihren Lauf, als ich geglaubt
hatte. Ich habe meine Hand auf die Türklinke gelegt, er hat gebrüllt: »Wohin
gehst du? Du bleibst heute abend hier! Bei mir!«
Kommt gar nicht in Frage. Das nicht,
das steht ganz außer Frage, und wenn er mich umbringt, aber das nicht. Ich bin
vor seinen Möchtegern-Minster-Schreibtisch getreten, ich habe meine beiden
Hände darauf gestützt, ich habe ihm gerade in die Augen geblickt, lange schon
hatte ich ihn nicht mehr so anschauen können, so direkt in die Augen.
»Was hast du gesagt? Du willst, daß ich
heute abend bei dir bleibe? Kommt gar nicht in Frage.«
»Ich habe dir gesagt, ich befehle
hier!«
»Hast du noch nicht kapiert, daß du mir
seit fünf Jahren auf den Wecker fällst? Ich hab’s satt, jetzt ist Schluß!«
»Du hältst den Mund, und du bleibst bei
mir!«
»Nein. Nein und nein. Nein und nein.«
Daraufhin bin ich sofort zur Tür
hinausgewischt, um im finsteren Wohnzimmer neben meiner Mutter Zuflucht zu
suchen.
»Was hast du zu ihm gesagt, Nathalie?«
»Daß er ein Idiot ist.«
»Das hättest du nicht sagen sollen...«
Mußte ich jetzt auch gegen sie
ankämpfen? Wie sollte ich es bewerkstelligen, ohne ihr den Rest zu sagen?
»Du hast ihn nur noch mehr erregt. Wir
müssen noch ein bißchen durchhalten. Wir werden fortgehen, morgen, übermorgen,
aber wir gehen fort, das schwör’ ich dir...«
Der Plan lautete, Auseinandersetzungen
zu vermeiden, ihn im Glauben zu lassen, er hätte gewonnen, er würde immer noch
befehlen, damit wir uns in aller Stille davonmachen könnten.
Hitler zeigte sich von neuem, wie immer
herumbrüllend, Geräusche von zerbrochenen Flaschen in der Küche, Flüche, ein
Befehl:
»Nathalie, kehr das zusammen!«
Wir stehen uns erneut Auge in Auge
gegenüber. Er wollte Vorbeigehen, ich stand ihm im Wege. Er hat sich aufgeregt,
er hatte wohl die Hand gehoben, um mich zu schlagen — ich habe es nicht bemerkt
— und meine Mutter hat sich auf ihn geworfen, um ihn daran zu hindern...
Das Tohuwabohu war entsetzlich, es
hörte überhaupt nicht mehr auf. Eine fürchterliche Prügelei, an deren Auslöser
sich niemand mehr erinnerte. Deren wirklichen Grund nur er und ich, wir
»allein« kannten. Meine Mutter glaubte, ihren zu kennen, meine Schwester und
mein kleiner Bruder glaubten, mein Vater sei einfach brutal oder betrunken. Es
war ekelerregend, unbegreiflich. Mir drehte sich der Kopf, ich hörte Weinen,
Schläge, er hat meinen kleinen Bruder auf sein Zimmer geschickt, er hat meiner
Mutter noch einmal die Autoschlüssel ins Gesicht geworfen und dabei erneut
gesagt, sie solle verschwinden, abhauen, sich aus dem Staube machen, wir würden
ihm das Leben vergällen, wir könnten hingehen, wo wir wollten, ihm wär’s egal,
er würde besser ohne uns leben. Als er hinausging und wieder die Tür zu seinem
Büro zuknallte, entdeckte ich, daß er die
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