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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Straße, ich könnte Meter für Meter
ihren Boden küssen. Er weiß es noch nicht, er weiß noch nicht einmal, daß wir
vor ihm ausreißen, er ist da unten in seiner Werkstatt und macht sich wichtig
wie immer, ohne im geringsten zu ahnen, daß er den härtesten Schlag seines
Lebens verpaßt bekommt. Heute abend wird er ein leeres Haus betreten. Er wird
nicht wissen, wo wir sind. Er wird toben vor Wut.

14
     
    Er hatte uns nie aus den Augen
gelassen, nie hatten wir weit entfernt von ihm die Ferien verbracht, abgesehen
von der kurzen Woche der Freiheit. Er hielt uns ununterbrochen unter seiner
Fuchtel. Wir brauchten für alles seine Genehmigung. Wir wurden kontrolliert wie
in einer Fabrik. Bewacht von einem Sträflingsaufseher. Niemand ging
irgendwohin, ohne daß er Bescheid wußte. Ich bin nun seit anderthalb Jahren von
ihm getrennt und kann immer noch nicht an die Freiheit und das Glück glauben.
Ich werde in zwei Wochen neunzehn Jahre alt sein, und habe immer noch Angst zu
lächeln, Angst, glücklich zu sein. Es kommt mir so vor, als hätte ich nur ein
einziges Recht: die Vergangenheit zu ertragen. Jedesmal, wenn mir das Leben
einen Moment des Glücks schenkt, fange ich an, vor ihm zu fliehen. Wie ich vor
meinem Vater geflohen bin. Ich fliehe vor mir selber, vielleicht aus Angst zu
entdecken, wer ich bin. Er hat das Kind, das ich war, getötet, er hat die Frau,
die ich werden sollte, getötet, und ich stehe dazwischen. Ich schwanke zwischen
dem Kind und der Frau hin und her, ohne je meinen Platz zu finden. Also ziehe
ich es im Augenblick vor, die Kind-Frau zu bleiben, die ich bin, anzufauchen,
wen ich will und wer es verdient. Was ist das, Glück? Ich habe nur ein einziges
Glück gekannt, das Glück an jenem Tag. Ein ungewisses Glück, das mir wieder
entglitt. Ich hatte erst die Hälfte des Martyriums hinter mich gebracht.
Büßerin, die ich war, mußte ich mir erst noch meine Erlösung verdienen. Und es
ist noch nicht zu Ende. Deshalb macht mir das Glück, dem ich begegne, Angst.
Fast möchte ich sagen, ich hätte kein Recht darauf.
    Aus Sicherheitsgründen werden wir von
einem Freund Chantals aufgenommen. Von dem, der mir die Sache mit der siebenten
Welle erklärt hat. Er lebt mit seiner Tochter in einem kleinen
Zweizimmerappartement, aber er hat eingewilligt, uns aufzunehmen, bis wir eine
Wohnung haben. Einen Tag nach unserer Ankunft beschließt Mama, die Scheidung zu
beantragen. Wir haben kein Geld. Wir müssen einen Anwalt finden, der bereit
ist, mit rechtlicher Hilfe die Unterlagen zusammenzutragen. Ich suche im
Telefonbuch, wir brauchen eine Frau. Eine Frau wird Mamas Problem verstehen.
Von meinem will ich gar nicht reden. Davon werde ich nie reden.
    Wir müssen uns nach Schulen umsehen,
Plätze für Fred, für Sophie und mich finden. Aber aus Sicherheitsgründen werden
wir nicht sofort hingehen. Einen Monat lang müssen wir uns verstecken. Er hat
sicherlich seine Kumpels hinter uns hergeschickt, die uns überall suchen, und
jedesmal, wenn ich die Nase hinausstecke, habe ich einen Knoten im Hals. Die
geringste Ähnlichkeit bei einem Menschen läßt mich davonlaufen. Die Angst. Eine
andere Angst, die, er möge uns wiederfinden.
    Großmutter ist am Telefon. Mama
vernimmt, daß er, falls sie sich weigert, mit ihm zu sprechen, Selbstmord
begehen wird.
    »Tu’ das nicht, Mama... sprich nicht
mit ihm.«
    »Er ist euer Vater, Nathalie. Eine
Scheidung ist eine Scheidung, aber ich kann ihm die Auskunft über euch nicht
vorenthalten. Er hat Rechte über euch. Das ist normal.«
    Die Falle. Mama läßt sich scheiden, das
ist ihre Angelegenheit. Sie kann nicht mehr mit ihm leben, das ist ihre
Angelegenheit. Folglich muß sie die Erziehung ihrer Kinder gewährleisten und
dafür Sorge tragen, die Scheidung gewinnen. Mama befindet sich in einer
normalen Situation. Aber ich? Es macht mich krank, daß sie mit ihm spricht. Es
ist auch meine Scheidung, und ich müßte eigentlich ein Wort mitzureden haben.
Dieses verdammte Schweigen. Dieses verdammte ständige Lügen. Ich lausche, auf
der Erde zusammengekrümmt.
    Er weint am Telefon. Er... weint. Er
will, daß sie mit den Kindern nach Flause zurückkehrt. Sie sagt nein, sie sagt,
den Kindern gehe es gut. Und daß sie nur bereit ist, mit ihm zu sprechen, um
ihm das zu sagen. Er drängt, er sagt noch einmal, daß er sich umbringen wird.
Der Magen dreht sich mir um, ich nehme den Nebenhörer, und es dringt zu mir:
    »Wenn du nicht zurückkommst, töte ich
mich. Ich verkaufe das

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