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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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wollte.
Man geht nicht einfach so davon. Der Vater, selbst wenn er ein Scheusal ist,
hat Rechte. Rechte...
    »Wir fahren doch nicht, Mädels...«
    Sie war ganz blaß, als sie das sagte.
Fast durchsichtig.
    Ich konnte nicht mehr zurück. Ich
weigerte mich, einem polizeilichen Druckmanöver zu weichen.
    »Nathalie, es gibt Dinge, die du nicht
weißt. Als du klein warst, wollte ich mit dir auf und davongehen, er hat
gedroht, er würde dich töten, wenn ich dich mitnähme. Deshalb bin ich
geblieben.«
    »Das hätte er nicht getan! Das ist
Quatsch.«
    Wenn ich daran denke, daß sie Angst
gehabt hat. Ich habe all das durchlebt, all diesen Horror, weil sie Angst hatte,
er würde mich töten, als ich zwei Jahre alt war. Vielleicht wäre es besser
gewesen...
    »Mama, wenn du nicht mit Sophie und
Frédéric fortgehst, geh’ ich allein...«
    Wenn sie wüßte. Wenn ich ihr sagte...
hier, jetzt, um sie endgültig loszureißen. Nichts zu machen. Es bleibt mir in
der Kehle stecken. Ich liebe sie, sie wird mich danach verabscheuen. Ich werde
nicht mehr ihre Tochter sein.
    Sophie kommt mir zu Hilfe: »Ich gehe
mit ihr.«
    Sophie fühlt die Gefahr. Sie hat sie
nur gestreift, Gott sei Dank, sie ist noch ein Kind, aber ihr Instinkt warnt
sie. Er hat Hand an sie gelegt, sie weiß nicht, daß ich es weiß, sie hat die
Möglichkeit zur Flucht, sie greift zu. Es ist eine Notwendigkeit für uns. Für
sie, für mich...
    »Mama...«
    Die Ergriffenheit verwandelt ihr
Gesicht innerhalb weniger Sekunden.
    »Also dann gehen wir alle fort.
Einverstanden. Packt eure Sachen zusammen, wie abgemacht. Versteckt sie gut
unter den Betten. Auf keinen Fall darf er etwas ahnen.«
    Wir haben gewonnen. Ich jubele
innerlich. Meine Knie zittern. Wir brechen aus. Endlich brechen wir aus, danke,
lieber Gott. Danke, Mama.
    An diesem Montagabend wagten wir nicht,
uns zu rühren. Wir lagen auf der Lauer wie Tiere vor ihrem Jäger. Jedesmal,
wenn ich durch den Flur ging, schaute ich auf die Tür. Durch diese Tür gehen,
sie öffnen, sie hinter sich schließen. Das ist verrückt mit der Tür. Das
fasziniert mich. Die Tür seines Büros, die Haustür. Eine Tür zwischen Horror
und Freiheit. Nur eine Tür... offen oder geschlossen.
    Er hat nichts gesehen, nichts geahnt,
nichts gemerkt. So überzeugt war er von seiner Macht, seiner Beherrschung und
davon, daß sich sein kleines Volk mit der Sklaverei abfand.
    Schlaflose Nacht. Stille im ganzen
Haus. Sterne in der Nacht. Ein letztes Mal habe ich meine Kerze angezündet. Ich
habe mich vollständig angezogen ins Bett gelegt, lauschte auf jedes Geräusch,
auf das geringste Schlurfen von Schritten im Flur. Ich war bereit, selbst zum
letzten Opfer, wenn es seiner bedurfte, damit er keinen Verdacht schöpfte. Zum
letzten Gefecht. Wenn doch die Nacht schon vorüber wäre, wenn sie doch schon
vorüber wäre, mein Gott, mach, daß sie schneller vorbei ist, mach, daß es Tag
wird! Ich war trunken von Hoffnung.
    Dienstag morgen. Stillschweigende
Panik. Wir müssen warten, bis er zu seiner Arbeit aufbricht. Bis er seinen
verfluchten Kaffee getrunken hat, bis er seinen Wagen gestartet hat. Chantal
hat sich an einer Ecke, ein Stück weit entfernt, versteckt; sie wartet, bis sie
ihn vorbeifahren sieht. Mama packt in einem Zimmer einige Dinge in Abfallsäcke.
    Wir gehen alle drei in die Schule wie
gewöhnlich. Mein kleiner Bruder weiß von nichts. Mama soll ihn um zehn Uhr in
der Schule abholen. Dann Sophie, dann mich. Um zehn Uhr dreißig erklärt Mama
dem Direktor des Gymnasiums, daß wir das Departement verlassen. Man bittet sie,
ein Papier zu unterzeichnen, auf welchem steht, daß sie die gesamte
Verantwortung für ihr Handeln übernimmt. Das bringt mich in Rage. Wofür hält
man sie? Sie ist meine Mutter! Sie hat mich auf die Welt gebracht, sie hat das
Recht, alle Rechte über mich.
    Endlich auf der Autobahn. Der Wagen ist
mit Taschen vollgestopft. Das kleine Volk macht sich in seine Freiheit auf,
inmitten von Abfallsäcken, in denen wir unsere Klamotten verstaut haben. Uns
ist egal, ob wir ärmlich aussehen. Wir brauchen keine Kroko-Koffer.
    Fred ist ratlos. Mama sagt zu ihm:
»Weißt du, wir haben das Haus verlassen, weil ich nicht mehr mit deinem Vater
leben will. Aber ich verspreche dir, daß du ihn sehen wirst, wenn du Lust hast.
Weine nicht.«
    »Ich will mit euch beiden leben.«
    Armer Kleiner. Es ist sein Vater. Er
hat noch einen Vater.
    Ich bin glücklich. Nie habe ich ein
solches Glücksgefühl empfunden. Nie. Diese

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