Ich weiss, dass du luegst
beliebt, heißt das nicht unbedingt, dass er lügt. Dabei handelt es sich dann eher um eine Fehlinterpretation. Solch einen Vorfall würde man nicht von vornherein als Beispiel für einen Selbstbetrug betrachten. Nicht jedes Missverständnis und nicht jede Fehlinterpretation ist auch ein Selbstbetrug.
Nehmen wir zum Beispiel einen angeblichen Vergewaltiger, der behauptet, sein Opfer habe Sex mit ihm gewollt. Obwohl Vergewaltiger, die wissen, dass ihre Opfer ganz und gar nicht eingewilligt haben, dies häufig behaupten, um der Bestrafung zu entgehen, muss die Behauptung selbst noch nicht falsch sein. Auch wenn es unwahrscheinlich klingt, könnte die Darstellung möglicherweise doch stimmen. Angenommen, die Vergewaltigung passierte bei einer Verabredung und das Opfer war schüchtern oder sehr ängstlich, protestierte nur einmal, aber nicht energisch genug, und wehrte sich anschließend nicht mehr. Ein Vergewaltiger könnte den anfänglichen Protest falsch deuten und den folgenden Mangel an Gegenwehr und die Passivität als Zustimmung auslegen. Wäre dieser Vergewaltiger Opfer eines Selbstbetrugs? Ich glaube nicht, es sei denn, es war ihm eindeutig nicht bewusst, dass seine Fehlinterpretation des Verhaltens seines Opfers von dem Wunsch motiviert war, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Fand eine Vergewaltigung statt? Die Antwort lautet ja, obwohl der Vergewaltiger es womöglich nicht so sieht und vielleicht seine eigene Wahrheit erzählt, wenn er behauptet, sein Opfer sei stillschweigend einverstanden gewesen. Einer der Gründe, warum jemand bei einer solchen Behauptung in seinem Benehmen glaubwürdig erscheint, ist seine Überzeugung, dass seine Ansicht richtig ist. Er glaubt nicht, dass er lügt. (Siehe die Diskussion dieses Problems bei Cross und Saxe| 3 im Kontext ihrer Kritik am Einsatz des Lügendetektortests bei Kindesmissbrauch.)
Natürlich ist das nicht der einzige Grund, warum jemand gänzlich unglaubwürdig erscheinen könnte. Geborene Darsteller haben die Fähigkeit, völlig in der Rolle aufzugehen, die sie spielen. Eine Zeitlang können sie fast unverzüglich alles glauben, was sie sagen. Weil sie überzeugt sind, die Wahrheit zu sagen, ist ihr Benehmen auch völlig glaubwürdig.
Fehlinterpretationen sind nicht die einzige Möglichkeit für jemanden, seinen falschen Bericht für die Wahrheit zu halten. Vielleicht ist einer Person anfangs klar, dass sie lügt, aber mit der Zeit glaubt sie womöglich an ihre Lüge. Ist jemand erst einmal davon überzeugt, dass seine Lüge einen wahrheitsgemäßen Bericht über ein Ereignis darstellt, kann er durchaus als jemand durchgehen, der die Wahrheit sagt. Betrachten wir jemanden, der zum ersten Mal wegen Kindesmissbrauchs angeklagt ist. Er behauptet, das Kind nur umarmt und nichts wirklich Falsches getan zu haben, nichts, was nicht auch das Kind wollte, das ebenfalls Spaß dabei gehabt habe. Obwohl er anfangs wusste, dass seine Schilderung eine Lüge war, könnte der Kinderschänder nach vielen Wiederholungen seiner Lüge meines Erachtens zu der Überzeugung gelangen, seine falsche Geschichte sei wahr. Es ist vorstellbar, dass er in seinem Bewusstsein sowohl die Erinnerung an das wahre Ereignis des Missbrauchs bewahrt als auch den erfundenen Glauben, er habe nur mit einem bereitwilligen Kind geschmust. Oder die wahrheitsgemäße Erinnerung kann mit der Zeit im Gegensatz zum konstruierten Glauben weniger oder überhaupt nicht mehr zugänglich sein.
Betrachten wir ein Mädchen, das absichtlich lügt und behauptet, es sei von einem Lehrer missbraucht worden, wohl wissend, dass es nie passiert ist. Nehmen wir an, das lügende Kind sei von dem Lehrer wegen eines schlechten Tests vor der ganzen Klasse gedemütigt worden. Nun ist es von dem Wunsch angetrieben, ihn dafür zu bestrafen. Wenn das Kind sich zu seiner Rache berechtigt fühlt, könnte es zu dem Schluss gelangen, er sei genau so ein Typ von Lehrer, der sie missbraucht haben könnte, der dies wahrscheinlich auch wollte und der wohl auch schon andere Kinder missbraucht habe und so weiter. Es lässt sich nicht ausschließen, dass nach einer gewissen Zeit und nach vielen Wiederholungen und Ausschmückungen das Mädchen zu der Überzeugung gelangen könnte, es sei tatsächlich missbraucht worden.
Diese Beispiele sind heikel, weil man nicht weiß, wie oft sie geschehen. Weder weiß man, ob Kinder anfälliger als Erwachsene dafür sind, das Falsche für wahr zu halten. Ebenfalls unbeantwortet bleibt die Frage,
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