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Ich weiss, dass du luegst

Ich weiss, dass du luegst

Titel: Ich weiss, dass du luegst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Ekman
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Die Belagerung dauerte 900 Tage. Wie verlautet, starben eineinhalb Millionen Menschen in Leningrad, von denen viele verhungerten. Fast jeder Erwachsene, den ich kennenlernte, erzählte mir von Familienangehörigen, die er während der Belagerung verloren hatte. Aber während ich mich in Leningrad aufhielt, gab die Regierung bekannt, die Zahl der Belagerungsopfer sei übertrieben worden. An diesem Tag im Mai, als das ganze Land den Sieg über die Nazis feierte, sagte die Regierung, die Verluste im Krieg seien deshalb so hoch gewesen, weil es nicht genügend Offiziere gegeben habe, um die Soldaten zu befehligen. Stalin habe viele seiner eigenen Offiziere in einer Säuberungsaktion kurz vor Beginn des Krieges ermordet.
    Aber es werden nicht nur unvermutete Lügen der Vergangenheit offenbart, sondern das Lügen geht weiter. Nur ein Jahr nach Michail Gorbatschows Machtübernahme passierte der verheerende Unfall im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Eine radioaktive Wolke breitete sich über Teile von West- und Osteuropa aus, aber die Sowjetregierung gab zunächst nichts bekannt, während Wissenschaftler in Skandinavien hohe Strahlungswerte in der Atmosphäre maßen. Drei Tage später gaben die sowjetischen Staatsbeamten einen schweren Unfall zu, bei dem zweiunddreißig Menschen ums Leben gekommen seien. Erst ein paar Wochen später sprach Gorbatschow öffentlich darüber und kritisierte hauptsächlich die Reaktionen des Westens. Die Regierung gab nie zu, dass viele Menschen in der Umgebung nicht früh genug evakuiert worden waren und an der Strahlenkrankheit litten. Russische Wissenschaftler schätzten die Opfer der Spätfolgen auf bis zu 10.000. Ich erfuhr dies von einem ukrainischen Arzt, der in meinem Abteil im Nachtzug nach Kiew saß. Funktionäre der Kommunistischen Partei hätten ihre Familien evakuiert, sagte er, während sie allen anderen erzählten, sie wären in Sicherheit, wenn sie blieben. Dieser Arzt behandelte jetzt junge Mädchen mit Eierstockkrebs, der normalerweise bei so jungen Menschen nicht auftritt. Im Krankensaal für Kinder, die an der Strahlenkrankheit litten, leuchteten nachts die Körper, behauptete er. Ich war mir wegen der Sprachschwierigkeiten zwischen uns nicht sicher, ob er das wortwörtlich meinte oder metaphorisch. «Gorbatschow belügt uns wie alle anderen vor ihm auch», sagte er. «Er weiß, was passiert ist, und er weiß auch, dass wir wissen, dass er lügt.» Ich lernte einen Psychologen kennen, der beauftragt worden war, die Menschen in der näheren Umgebung von Tschernobyl zu interviewen. Er sollte herausfinden, wie sie drei Jahre später mit dem Stress zurechtkamen. Er glaubte, ihre Notlage würde wenigstens zum Teil gelindert, wenn sie sich von der Regierung nicht alleingelassen fühlten. Seine offizielle Empfehlung lautete, Gorbatschow solle sich an die Nation wenden und sagen: «Wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht und die Stärke der Strahlung unterschätzt. Wir hätten Sie viel schneller evakuieren sollen, aber wir hatten keine Unterkünfte für Sie. Als wir unseren Fehler erkannten, hätten wir Ihnen die Wahrheit sagen sollen, was wir nicht taten. Jetzt möchten wir, dass Sie die Wahrheit erfahren. Sie sollen wissen, dass die ganze Nation mit Ihnen leidet. Wir werden Ihnen die medizinische Versorgung zukommen lassen, die Sie brauchen, und übermitteln Ihnen unsere guten Wünsche für Ihre Zukunft.» Seine Empfehlung blieb unbeantwortet.
    Die Wut über die Lügen von Tschernobyl ist noch nicht verflogen. Anfang Dezember 1991, fünfeinhalb Jahre nach dem Unfall, forderte das ukrainische Parlament die strafrechtliche Verfolgung von Michail Gorbatschow und siebzehn weiteren sowjetischen und ukrainischen Regierungsbeamten. Wladimir Jaworiwski, der Vorsitzende der ukrainischen gesetzgebenden Kommission, die den Vorfall untersuchte, sagte: «Die ganze Führungsebene, von Gorbatschow bis zu den Experten, die die verschlüsselten Telegramme dechiffrierten, waren sich des Umfangs der radioaktiven Kontamination bewusst.» Die ukrainischen Politiker gaben an, Präsident Gorbatschow «persönlich hat das wahre Ausmaß der Freisetzung radioaktiver Stoffe vertuscht».
    Jahrzehntelang lebten die Menschen in der Sowjetunion in dem Bewusstsein, dass sie die Regeln manipulieren und umgehen mussten, um etwas zu erreichen, Lug und Betrug waren normal. Jeder wusste um die Korruption des Systems und lebte mit unfairen Regeln. Wer überleben wollte, musste das System austricksen. Soziale

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