Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
ihn an einen Farmer verkauft. Es war ein Verlustgeschäft, aber ich war froh, ihn los zu sein.« Er ließ den Motor an. »Wo wollen wir hin?«
»Wohin du willst. Es spielt keine Rolle.«
»Zum Grillplatz hoch?«
»Nein, nicht dorthin.« Ihre Antwort kam so schnell, dass die drei Wörter wie ein einziges klangen. »Wir könnten uns ins Henry’s setzen.«
»Hast du Hunger?«
»Nein, aber irgendwohin müssen wir ja.«
Keine besonders gute Idee, wie sich herausstellte, als sie dort ankamen. Henry’s Eisdiele hatte eine Sonderaktion gestartet – zwei Eisbecher mit Karamellsauce zum Preis von einem – und das Angebot hatte sich offensichtlich schnell herumgesprochen. Es gab kaum noch freie Plätze auf dem Parkplatz, wo sich die wütend hupenden Fahrzeuge stauten, und vor dem Eingang hatte sich eine Riesenschlange gebildet. »Sollen wir doch zum Grillplatz? Dort können wir ungestört sprechen«, fragte Ray noch einmal.
Julie nickte widerstrebend. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«
Schweigend fuhren sie die kurvenreiche Straße in die Berge hinauf. Als sie an einer ganz bestimmten Stelle vorbeikamen, schloss Julie hastig die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Kurz nachdem sie das Schild mit der Aufschrift »Cibola National Forest – Silver Springs« passiert hatten, bog Ray links in einen schmalen Schotterweg, der an einem großen Grillplatz mit grob gezimmerten Tischen und Bänken vorbeiführte. Tief hängende Zweige streiften die Seiten des Wagens, und ein Eichhörnchen sprang vor ihnen über den Weg, als sie auf den Fluss zufuhren und neben einer Bank hielten.
»Hat sich nichts verändert hier«, begann Ray, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
Julie nickte. Das Wasser schlängelte sich wie ein schma les silberfarbenes Band die Felsen hinunter und vers chwand dann im immergrünen Dickicht. Ein paar vereinzelte namenlose gelbe Blumen streckten ihre Köpfchen aus der frischen Frühlingserde und über den Bäumen wölbte sich ein sattblauer Himmel.
»Erinnerst du dich noch, wie damals der Mond in den Zweigen dieser Kiefer geleuchtet hat, als hätte er sich darin verfangen?«, fragte Ray.
»Ich möchte mich nicht erinnern. An nichts, was mit diesem Abend zu tun hat.«
»Das musst du aber, Julie.« Er legte eine Hand auf ihre. »Wir müssen uns erinnern, um dann gemeinsam zu entscheiden, was zu tun ist.«
»Warum?«, seufzte Julie. »Es ist vorbei, und das jetzt schon beinahe seit einem Jahr.«
»Es ist nicht vorbei. Nicht wirklich.«
»Wie meinst du das?«
»So etwas kann man nicht einfach unter den Teppich kehren und so tun, als wäre es nie geschehen. Erst recht nicht nach dem, was mit Barry passiert ist.«
Julie entzog ihm ihre Hand und verschränkte sie mit ihrer anderen im Schoß. »Dass auf Barry geschossen wurde, hat nichts mit … damit zu tun. Es ist während einer Studentendemo auf dem Campus passiert.«
»Dort gab es aber keine Schießerei.«
»Mom hat gesagt …«
»Mach dir doch nichts vor, Julie. Die Demonstration ist absolut friedlich verlaufen. Eine Gruppe von Leuten mit selbst gemalten Transparenten, nichts weiter. Sie haben die Straße blockiert, und diejenigen, die sich das Feuerwerk anschauen wollten, steckten eine Weile in ihren Wagen fest und konnten nicht weiterfahren. Aber es hat keinerlei Gewalt gegeben. Es wurden noch nicht einmal Knallfrösche geworfen.«
»Lass gut sein, Ray. Ich habe keine Lust, das alles noch mal durchzukauen.«
»Verdammt, Julie!«, rief Ray aufgebracht. »Wir müssen aber darüber reden!«
»Na schön.« Sie wandte ihm das Gesicht zu, und in ihren Augen lag ein so tiefer Schmerz, dass es ihm für einen Moment leidtat, sie so gedrängt zu haben. »Wenn du unbedingt darauf bestehst, bitte. Ja – der Mond hat in den Zweigen der Kiefer geleuchtet, als hätte er sich darin verfangen. Ja – wir hatten eine Menge Spaß an diesem Abend. Ja – wir haben einen kleinen Jungen getötet. Sonst noch was?«
»Du hast Barry vergessen.«
Julie sah ihn einen Augenblick schweigend an, dann sagte sie zögernd: »Heißt das, du glaubst, jemand hat absichtlich auf Barry geschossen? Jemand, der weiß, was passiert ist?«
»Ja, genau. Und zwar derjenige, der dir die Nachricht und mir den Zeitungsartikel geschickt hat.«
»Welchen Zeitungsartikel?«, fragte Julie überrascht. »Davon weiß ich nichts.«
»Er lag am Samstag in der Post, genau wie die Nachricht an dich. Die Handschrift auf dem Umschlag war exakt dieselbe.«
Ray zog sein
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