Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
wie meine Eltern sich fühlen würden oder deine Mom, wenn uns so etwas passieren würde. Bleibt allerdings immer noch die Frage, warum dieser Jemand so lange gewartet hat. Wenn es den Eltern irgendwie gelungen wäre, herauszufinden, dass wir ihren Sohn überfahren haben – und mir ist nach wie vor ein Rätsel, wie sie das hätten anstellen sollen –, warum hätten sie dann fast ein Jahr verstreichen lassen sollen, um etwas zu unternehmen?«
»Und woher hätten sie wissen können, dass Helen bei Barry angerufen hat? Falls sie es wirklich war, die angerufen hat. Das wissen wir ja noch nicht einmal mit Sicherheit.«
»Aber das können wir problemlos herausfinden«, sagte Ray. »Wir müssen sie nur fragen. Und sobald Barry Besuch bekommen darf, kann er uns erzählen, was passiert ist. Vielleicht hat er die Person, die auf ihn geschossen hat, sogar gesehen.«
»Es war aber schon dunkel …«
»Es muss hell genug gewesen sein, dass jemand mit einer Waffe auf ihn zielen konnte.«
»Helen ist noch im Studio.« Julie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Soweit ich weiß, kommt sie gegen fünf nach Hause. Was hältst du davon, wenn wir einfach gleich zu ihr fahren und mit ihr sprechen?«
»Gute Idee«, sagte Ray. »Bis dahin bleibt uns noch eine halbe Stunde. Hast du Lust, noch ein bisschen am Flussufer spazieren zu gehen? Ich habe in den vergangenen Monaten viel an diesen Platz gedacht. Das klingt wahrscheinlich verrückt. Ich meine, ich war immerhin in Kalifornien und hatte jeden Tag Sonne, Meer und Strand. Trotzdem musste ich immer wieder an den Duft der Kiefern denken, an den Fluss und … und an meine Freundin, mit der ich so oft hier war.«
Er war zu weit gegangen und er wusste es. Er sah, wie Julie sich versteifte.
»Mir ist jetzt gerade wirklich nicht nach Spazierengehen«, sagte sie. »Gib mir lieber noch mal den Zeitungsausschnitt.«
Er sah sie verständnislos an, holte dann aber seinen Geldbeutel hervor und ließ ihn einen Augenblick länger als nötig aufgeklappt, sodass Julie gar nicht anders konnte, als das Foto zu bemerken, das in einem der Fächer steckte und auf dem sie beide glücklich in die Kamera lächelten. Das Bild war vor einem Jahr aufgenommen worden. Sie trug eine Jeans und ein Tanktop, ihre offenen Haare umspielten in sanften Wellen ihr Gesicht und ihre Augen leuchteten übermütig.
Als er ihr jetzt den Zeitungsausschnitt reichte, wurde Ray mit einem Schlag klar, wie sehr sich ihre Augen seit dieser Aufnahme verändert hatten. Es lag nicht einmal mehr der Anflug eines Lächelns darin. Es waren Augen, die schon sehr lange nicht mehr gelächelt hatten.
Julie nahm den Artikel, wobei sie darauf achtete, Rays Hand nicht zu berühren, und strich ihn glatt.
»… Sohn von Michael und Mary Gregg«, las sie laut vor, »1279, Morningside Road Northeast. Das ist hier ganz in der Nähe, Ray! Es ist eine dieser kleinen Straßen südlich von der Stelle, wo der Unfall passiert ist.«
»Es kann ja nur in der Nähe sein, wenn der Junge auf dem Heimweg von einem Freund war.«
»Ray.« Sie holte tief Luft. »Ich möchte dorthin.«
»Wohin?«
»Zu dem Haus, wo er gelebt hat.«
»Bist du total verrückt geworden? Das ist doch krank.« Ray sah sie fassungslos an.
»Wieso? Du hast es doch auch nicht krank gefunden, hier raufzufahren. Außerdem – wer redet denn die ganze Zeit davon, dass wir uns nicht länger etwas vormachen dürfen, dass wir uns den Tatsachen stellen und herausfinden müssen, was hier vor sich geht. Und dazu gehört meiner Meinung nach, dass wir zu ihm nach Hause fahren und mit seinen Eltern sprechen.«
»Mit seinen Eltern sprechen!« Ray war überzeugt, sich verhört zu haben. »Du meinst, wir sollen einfach an der Tür klingeln, uns vorstellen und sagen ›Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wir sind zwei der Leute, die Ihren Jungen tot gefahren haben, und wollten nur mal sehen, wie es Ihnen damit geht?‹ Du hast doch komplett den Verstand verloren!«
»Herrgott, Ray. Für wie bescheuert hältst du mich?«, herrschte Julie ihn an. »Du hast vorhin selbst gesagt, dass die Menschen, die alles Recht der Welt hätten, uns zu hassen, die Eltern des Jungen sind. Aber wie sollen wir jemals etwas über sie herausfinden, wenn wir gar nicht wissen, wer sie sind?«
»Du hast gesagt, du willst mit ihnen sprechen .«
»Ja, sprechen, aber doch nicht darüber . Ich dachte … keine Ahnung … Können wir nicht einfach bei ihnen klingeln, so tun, als hätten wir ein Problem mit unserem
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