Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
mir ganz sicher, dass er mich sehen möchte«, sagte Helen. »Würden Sie ihn bitte fragen? Sagen Sie ihm, Helen würde ihn gern besuchen.«
»Gehören Sie zur Familie?«
»Nicht direkt.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Patienten?«
»Ich … ich bin eine Freundin. Eine sehr gute Freundin.«
»Tut mir leid, aber Mr Cox darf nur von seinen engsten Angehören besucht werden.«
»Verdammt«, murmelte Helen, nachdem sie aufgelegt hatte. »Ich kann mir schon denken, wer das veranlasst hat – Mutter Cox höchstpersönlich.«
Die Ereignisse des vorangegangenen Abends drängten sich mit der seltsamen Verschwommenheit eines Albtraums in ihre Gedanken: der Moment, als sie im Studio davon erfahren hatte, Collies Auftauchen, die Fahrt zum Krankenhaus, die kalte Abneigung in den Augen von Barrys Mutter.
»Wenn sie ihn nicht angerufen hätte, wenn sie nicht darauf bestanden hätte, sich mit ihm zu treffen, wäre er zu Hause geblieben, und das alles wäre nie passiert …«, hatte sie ihr vorgeworfen.
Und sosehr sie auch beteuert hatte, an diesem Abend nicht mit Barry gesprochen zu haben, sie schienen ihr nicht geglaubt zu haben.
»Wir geben nicht Ihnen die Schuld, Helen«, hatte Mr Cox gesagt. Aber in Wirklichkeit taten sie genau das. Auch wenn Mr Cox in der Eingangshalle stehen geblieben und so nett gewesen war, ihr zu erzählen, wie es Barry ging, hatte sie in seinen Augen lesen können, dass er sie dafür verantwortlich machte.
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte Helen jetzt laut zu sich selbst, und der Klang ihrer eigenen Stimme befremdete sie. »Ich habe Barry nicht angerufen und gebeten, mich auf der Sportanlage zu treffen. Ich habe gestern Abend kein einziges Mal mit ihm gesprochen.«
Aber es hatte einen Anruf gegeben. Das hatte einer von Barrys Mitbewohnern erzählt. Irgendjemand hatte angerufen, mit Barry gesprochen und sich mit ihm verabredet, jemand mit einem Anliegen, das offensichtlich wichtig genug gewesen war, um ihn auf der Stelle aus dem Haus zu locken.
Wer hatte ihn angerufen und warum? War es ein Mädchen gewesen? Konnte es sein, dass Barry neben ihr noch mit einer anderen zusammen war?
»Nein«, beantwortete Helen sich die Frage selbst. »Völlig ausgeschlossen.« Sie war Barrys Freundin. Die einzige, die er hatte. Wenn sie ihm nicht vertrauen konnte, wem dann? Und doch hatte es während des vergangenen Jahres ein paar Vorfälle gegeben, die, jeder für sich genommen, eigentlich nicht der Rede wert waren – in der Summe jedoch für jemanden wie Helen, die sich seiner Liebe nie wirklich sicher sein konnte, beunruhigend waren.
Zum Beispiel die Unterhaltung mit Elsa am Abend des Unfalls. Denn genau das war es für Helen – ein Unfall. Ein schicksalhaftes Unglück. In dem einen Moment waren sie noch zu leiser Radiomusik völlig sorglos die Straße entlanggefahren, während ihre Hand auf Barrys Schulter gelegen hatte, und im nächsten war plötzlich das Kind vor dem Wagen aufgetaucht. Es gab nichts, was Barry hätte tun können. Selbst wenn er nicht den Arm um sie gelegt und stattdessen beide Hände am Steuer gehabt hätte, wäre er mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr in der Lage gewesen, rechtzeitig auszuweichen. Auch hinterher hatten sie getan, was sie konnten. Ray hatte sogar einen Krankenwagen gerufen. Es war nicht Barrys Schuld, dass der Junge so schwer verletzt gewesen war, dass jede Hilfe zu spät gekommen war. Ein Zehnjähriger hatte nun mal nicht bei Dunkelheit auf einer Bergstraße mit dem Fahrrad zu fahren.
Nein, Barry traf keine Schuld, keiner von ihnen konnte etwas dafür. Trotzdem hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Schreckliches erlebt. Sie hatte fast den ganzen Weg bis nach Hause geweint. Als sie leise, um ihre Eltern nicht aufzuwecken, in ihr Zimmer geschlichen war, war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, dass Elsa noch wach im Bett lag und las.
Ihre Schwester hatte von ihrem Kinomagazin aufgeschaut und die Augen hinter den Brillengläsern zusammengekniffen.
»Du hast geweint!«
»Nein«, hatte Helen entgegnet.
»Mach mir doch nichts vor. Deine Augen sind knallrot!« Elsa hatte die Zeitschrift beiseitegelegt und beinahe triumphierend die Brauen hochgezogen. »Was ist passiert? Hat er Schluss gemacht? Ich habe mich schon gefragt, wie lange es noch dauern wird.«
»Sei nicht albern«, hatte Helen entgegnet. »Zwischen Barry und mir ist alles in bester Ordnung.«
»Und warum hast du dann geweint?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht geweint
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