Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
drangehen und sofort auflegen, wenn sie meine Stimme hört.«
»Sei nicht zu streng mit ihr«, sagte Collie. »Sie hat letzte Nacht die Hölle durchgemacht. Mütter werden nun mal zu Hyänen, wenn es um ihre Kinder geht. Meine ist genauso.«
»Ich bin doch selbst ganz krank vor Sorge um Barry«, erinnerte Helen ihn. »Trotzdem darf nur seine Familie zu ihm. Ich habe mir schon überlegt, mich als Krankenschwester verkleidet in sein Zimmer zu schmuggeln.«
»Vergiss es. Jeder, der einen Fernseher zu Hause stehen hat, wird dich erkennen, noch bevor du den Mund aufgemacht hast.« Er runzelte kaum merklich die Stirn. »Gibt es eigentlich schon etwas Neues darüber, wer auf ihn geschossen hat und warum?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Gestern Abend auf dem Weg ins Krankenhaus hast du gesagt, dass Barry keine Feinde hätte. Wir haben auch ein paar andere Möglichkeiten ausgeschlossen – Raubüberfall, Drogen. Da bleibt nicht mehr viel übrig, oder? Ich meine, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand grundlos auf ihn geschossen haben soll.«
»Ich will noch nicht einmal darüber nachdenken«, wehrte Helen kopfschüttelnd ab.
»Aber das musst du. Es gibt wahrscheinlich niemanden, der Barry so gut kennt wie du. Vielleicht war er ja doch in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt, hat Pillen verkauft oder …«
»Auf keinen Fall. Was das angeht, bin ich mir absolut sicher.«
»Ich sage ja auch nicht, dass es so etwas gewesen sein muss. Ich habe nur laut nachgedacht, okay? Vielleicht war es etwas ganz anderes. Jedenfalls steht fest, dass normalerweise nicht grundlos auf einen geschossen wird. Natürlich kommt es zum Beispiel bei Jagdausflügen immer wieder zu Unfällen mit Schusswaffen, aber in so einem Fall, wenn jemand mit einem Anruf aus dem Haus gelockt wird – das kann nur geplant gewesen sein.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Helen.
»Hast du eine andere Erklärung? Im Moment bist du wahrscheinlich die Einzige, die eine Antwort darauf finden könnte, zumindest bis Barry in der Lage ist, selbst auszusagen.«
»Mir fällt aber nichts ein.«
»Okay, schon gut.« Collie drückte ihre Schulter. »Lass dich nicht unterkriegen und trinke erst mal in Ruhe deinen Kaffee. Wir sehen uns später.«
Nachdem er draußen war, schloss Helen die Tür hinter ihm, zögerte kurz und verriegelte sie dann.
Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war das Dröhnen des Rasenmähers leiser geworden, weil der Hausmeister mittlerweile im hinteren Teil des Gartens zugange war. Die Sonnenstrahlen fielen nun in einem anderen Winkel ins Zimmer und tauchten das ungemachte Bett und den Wecker auf dem Nachttisch in ihr goldenes Licht. Auf der Kommode gegenüber hatte Barrys Foto einen Ehrenplatz, umringt von luxuriösen Gesichtscremes und Schminkutensilien.
Helen zog die oberste Schublade auf. Einen Moment lang stand sie reglos da, als hätte sie Angst, hineinzugreifen. Dann nahm sie mit zitternder Hand die herausgerissene Anzeige mit dem kleinen Jungen auf dem Fahrrad heraus.
NEUN
Als Julie an diesem Nach mittag aus derSchule kam, wartete Ray auf sie. Er parkte an der Stelle, wo er bis vor einem Jahr, als er selbst noch hier zur Schule gegangen war, immer gestanden hatte – auf der anderen Seite des Parkplatzes, fernab des Hauptgebäudes.
Julie war nicht überrascht, ihn zu sehen. Merkwürdigerweise hatte sie sogar damit gerechnet, dass er dort warten würde. Sie verließ den Strom lachender und sich gegenseitig schubsender Schüler und schlug wie selbstverständlich den Weg in seine Richtung ein. Als sie beim Wagen ankam, öffnete sie die Tür, wie sie es all die Male im vergangenen Jahr getan hatte, warf ihre Tasche auf den Rücksitz und stieg neben ihm ein.
»Ist irgendwie seltsam«, sagte sie zur Begrüßung, »dass du den Wagen von deinem Vater fährst.«
»Es ist ziemlich nett von ihm, dass er ihn mir überlässt«, erwiderte Ray. »Morgens fahre ich ihn ins Geschäft und abends holt Mom ihn wieder ab. Nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, wie sauer er war, als ich letzten Herbst einfach so abgehauen bin. Er hat nicht verstanden, warum ich nicht sofort mit dem Studium angefangen habe und von hier wegwollte – natürlich konnte ich ihm auch keine vernünftige Erklärung dafür geben.«
»An wen hast du deinen Wagen damals eigentlich verkauft?«, fragte Julie. »Das hast du mir nie erzählt.«
»Barry und ich haben ihn zu Hobbs gefahren, nachdem wir die Beule rausgehämmert hatten, und der hat
Weitere Kostenlose Bücher