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Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast

Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast

Titel: Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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sich das Ganze jetzt wahrscheinlich ein paar Wochen nach hinten verschiebt.«
    »Natürlich, Schatz«, beruhigte ihn seine Mutter. Ihm fiel ein merkwürdig mitleidiger Unterton in ihrer Stimme auf, den er sich nicht erklären konnte. »Trotzdem ist es doch schön, ein hübsches Zimmer zu haben, solange du bei uns bist, oder?«
    Sie erhob keine Einwände gegen die Europatour und wiederholte auch nicht ihren Vorschlag, die Verwandten an der Ostküste zu besuchen. Das allein war schon beunruhigend, um nicht zu sagen, beängstigend.
    Dass ihn abgesehen von seinen Eltern niemand besuchen durfte, war absolut in seinem Sinn. Er fand es s chon anstrengend genug, die ständige Anwesenheit sei ner Mutter ertragen zu müssen, da konnte er gut darauf verzichten, irgendwelche Kumpels von der Uni oder in Tränen aufgelöste Tussis an seinem Bett sitzen zu haben. Wie diese nervtötende kleine Krankenschwester vorhin schon ganz richtig bemerkt hatte, hatte er genügend Freundinnen, um mit den Sträußen, die sie ihm geschickt hatten, einen ganzen Blumenladen aufzumachen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Crystal, Madison, die falsche Schlange Helen und all die anderen sich hier mit vor Sorge rot verweinten Augen die Klinke in die Hand geben würden und er sie einander vorstellen müsste, wenn sie sich an seinem Bett trafen.
    Selbst Julie hatte Blumen geschickt und eine Karte beigelegt, auf der »Werde schnell wieder gesund. Wir denken an dich« stand. Wer »wir« war, wusste er nicht – vielleicht sie und Helen oder Ray oder sonst irgendjemand. Es war ihm sowieso egal.
    »Hey, Barry?« Es klang wie ein Echo seines letzten Gedankens, eine vertraute Stimme, die er schon lange nicht mehr gehört hatte. »Schläfst du?«
    Barry riss die Augen auf. »Was machst du denn hier? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«
    »Über die Hintertreppe.« Ray lächelte kleinlaut. »Und dann bin ich einfach den Flur entlang und zu dir rein. Von den Schwestern, die mir unterwegs begegnet sind, hat mich keine aufgehalten.«
    »Wundert mich, außer meinen Eltern darf mich nämlich eigentlich niemand besuchen.«
    »Ich weiß. Wahrscheinlich werde ich in ein paar Minuten auch rausgeworfen. Aber jetzt sag doch erst mal, wie’s dir geht?«
    Barry musterte den Typen, der am Ende seines Betts stand, erstaunt. Ray hatte sich unglaublich verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Schultern und der Brustkorb waren breiter, er war braun gebrannt und hatte sich einen Bart wachsen lassen, der ihn viel reifer wirken ließ. Früher hatte sein Gesicht immer etwas Unfertiges gehabt, wie bei einem Porträt, bei dem der Maler sich nicht hatte entscheiden können, was er mit Mund- und Kinnpartie anfangen soll. Jetzt waren die Konturen scharf und ausgeprägt, und es war das Gesicht eines erwachsenen Mannes – wenn auch eines sehr jungen Mannes.
    Rays Blick war ruhig und selbstbewusst.
    »Mir geht’s blendend, sieht man das nicht?«, antwortete Barry sarkastisch. »Und selbst?«
    Sein alter Freund kam um das Bett herum, stellte sich neben ihn und betrachtete ihn mitfühlend. Verdammt, dachte Barry. Es war das erste Mal, dass Ray auf ihn hinunterschaute. Sonst war es immer umgekehrt gewesen.
    »Tut mir echt leid für dich, Barry«, sagte Ray. »Das ist eine ganz üble Scheiße, die dir da passiert ist. Hast du starke Schmerzen?«
    »Spaß macht’s jedenfalls keinen«, antwortete Barry. »Warum bist du hier?«
    »Na ja, vor allem, um zu sehen, wie es dir geht. Die sagen einem ja kaum etwas, wenn man hier anruft und sich nach dir erkundigt. Gestern habe ich kurz mit deinem Vater telefoniert, wollte ihn aber heute nicht noch mal belästigen.«
    »Was hat er gesagt?«, fragte Barry.
    »Nicht viel. Nur dass du über den Berg bist und dass sie dich schon besuchen durften.«
    »Hat er gesagt, was mit meinen Beinen los ist?« Barry meinte, ein kurzes unsicheres Flackern in den grünen Augen seines Freundes zu bemerken.
    »Nein, nichts«, antwortete Ray eine Spur zu hastig.
    »Du lügst.«
    »Ich hab ganz kurz mit ihm gesprochen, und er hat nur gesagt, dass du wieder in Ordnung kommst.«
    »Wer’s glaubt, wird selig.« Verdammt, ich hasse ihn, dachte Barry. Wie er dasteht und mit seinem Scheißmitleid auf mich runterglotzt, mich anlügt und auf seinen beiden gesunden Beinen jederzeit wieder hier rausspazieren kann. Wenn ihm doch nur irgendjemand eine Kugel in die Eingeweide verpassen würde, damit er wüsste, wie es sich anfühlt, im Dunkeln am Boden zu

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