Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
bisschen rumgefahren und haben geredet.«
»Das ist schön.« Ihre Mutter lächelte. »Ich bin froh, dass Ray wieder da ist. Ich würde mir nur wünschen, dass er sich diesen grässlichen Bart abrasiert und wieder wie er selbst aussieht.«
»Mir gefällt er irgendwie«, meinte Julie. »Er wirkt älter damit.«
»Das ist mir auch aufgefallen, aber ich glaube, das liegt nicht nur am Bart. Das Jahr in Kalifornien hat ihn reifen lassen. Ich habe Ray immer gerngehabt, das weißt du, aber als ich mich gestern Abend mit ihm unterhalten habe, hatte ich das Gefühl, mit einem erwachsenen Mann zu sprechen.« Mrs James lachte. »Aber das würde wahrscheinlich keiner von euch beiden als Kompliment sehen.«
Julie zog erstaunt die Brauen hoch. »Bei Ray magst du es, dass er älter wirkt, aber bei Bud, der tatsächlich ein bisschen älter ist, stört es dich.«
»Na ja, es gibt älter und älter. Bud benimmt sich wie mein eigener Großvater. Wahrscheinlich würde er sogar erst meine Erlaubnis einholen, bevor er dir einen Gutenachtkuss gibt.«
»Ich halte dich auf dem Laufenden. Bis jetzt hat er es jedenfalls noch nicht getan.«
Julie lehnte am Türrahmen und sah zu, wie ihre Mutter das Brot aus der Form nahm und auf ein Gitter setzte. Das Licht der Deckenlampe brachte ein paar silbrige Strähnen in ihrem Haar zum Glitzern.
Mom wird langsam grau, dachte Julie überrascht.
Sie betrachtete die Haare ihrer Mutter, die immer kräftig und pechschwarz gewesen waren. »Wie Rabenflügel«, hatte ihr Vater einmal gesagt und die Hand ausgestreckt, um ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Wann hatte es angefangen? Gestern? Letzte Woche? Letztes Jahr? Sie war so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass es ihr nicht aufgefallen war.
Wie dünne violettfarbene Schnüre traten auf den Handrücken ihrer Mutter die Venen hervor, als sie das Brot mit einer Kuchenhaube abdeckte. Es waren unübersehbar nicht länger die Hände einer jungen Frau.
»Mom …« Julie empfand plötzlich so viel Zärtlichkeit für ihre Mutter, dass es fast wehtat. »Ich liebe dich, Mom, das weißt du, oder? Ich liebe dich über alles.«
»Ich liebe dich auch, Schatz!« Ihre Mutter drehte sich überrascht zu ihr um und sah sie dann prüfend an. »Was ist los, Julie? Ich spüre doch, dass irgendetwas nicht stimmt.«
Für den Bruchteil einer Sekunde war Julie versucht, sich in die Arme ihrer Mutter zu schmiegen und die ganze schreckliche Wahrheit herauszuschluchzen. Es wäre eine unglaubliche Erleichterung gewesen, sich endlich alles von der Seele zu reden. Sich an die Schulter eines Erwachsenen zu lehnen, die schreckliche Tat zu gestehen und um Rat und Hilfe zu bitten – die Vorstellung hatte etwas von himmlischer Erlösung.
Aber sie blieb stumm. Sie war an einen Pakt gebunden und ihre Mutter hatte schon genug Kummer ertragen. Nein, für diese Sache war sie ganz allein verantwortlich, und in diesem Fall würde der Schmerz nicht weniger werden, wenn sie ihn teilte.
»Ich bin bloß müde, nichts weiter«, sagte sie ausweichend. »Die Prüfungen, der Brief vom Smith College und dann auch noch die Sache mit Barry. Das war wohl alles ein bisschen viel. Was hältst du davon, wenn ich uns heute etwas koche? Worauf hättest du Lust?«
»Ich dachte, wir werfen uns irgendwas Leckeres aus dem Gefrierfach in die Mikrowelle«, antwortete Mrs James. »U nd dazu essen wir das selbst gebackene Brot. Was meinst du?«
Das Telefon klingelte.
»Du musst ja ein wahnsinnig spannendes Telefonat geführt haben«, neckte Buds Stimme sie, nachdem sie drangegangen war und sich gemeldet hatte. »Ich versuche schon seit über einer Stunde, dich zu erreichen.«
»Mit unserem Anschluss scheint etwas nicht in Ordnung zu sein«, erklärte Julie. »Das hatten wir vor ein paar Monaten schon mal. Da ging unser Telefon drei Tage lang nicht, ohne dass wir es gemerkt haben.«
»Jedenfalls bin ich froh, dass ich dich endlich erreiche«, sagte Bud. »Hast du vielleicht Lust, morgen Abend ins Kino zu gehen? Du hast so hart gearbeitet in letzter Zeit, ein bisschen Ablenkung wird dir guttun.«
»Aber nur wenn wir uns irgendwas Lustiges anschauen«, antwortete Julie. »Etwas Trauriges oder Kompliziertes ertrage ich im Moment nicht.«
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten und Julie verabredete sich für den nächsten Abend mit ihm. Als sie in die Küche zurückkam, hatte sie sich wieder im Griff.
Obwohl ihre Mutter ihr während des Essens immer wieder besorgte
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