Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
Jungs geht. Aber ich habe solche Angst, dass sie sich vor mir ekeln. Und Vorwürfe machen. Selbst wenn sie es nicht zugeben, dann zumindest denken: Warum hat sie sich denn nicht gewehrt? Das ist es, was ich mich auch selbst immer frage: Hätte ich mich mehr wehren können? Wäre mir dann alles erspart geblieben? Bin ich selbst schuld an meiner Geschichte?
Ich mustere den Beamten. Kriminalbeamter Martin Krause. Er tut so nett. Ganz verständnisvoll. Noch ist er das vielleicht auch. Aber wenn er gleich meine Geschichte kennt, wird er sicher auch sagen: »Du warst schließlich schon zwölf und kein Baby mehr!« Meistens glaube ich auch, dass ich mich als Zwölfjährige doch schon gegen einen erwachsenen Mann hätte wehren können – gegen meinen erbärmlichen Stiefvater.
»So, ich wäre dann endlich so weit«, sagt Krause nun, nachdem seine Kollegin aus dem Nachbarzimmer begeistert gerufen hat: »Es geht! Martin, es läuft!« An der Kamera blinkt sogar schon ein rotes Licht. Auch das noch! Ich bin wie erstarrt. Während der Kriminalbeamte noch ein paar Ordner auf dem Tisch beiseiteschiebt, erfragt er wie beiläufig meine Personalien. Obwohl er das doch alles schon weiß: Anna B., geboren am 12. Dezember 1989 in Bonn. Dann verschränkt er seine Hände. Kleine Hände. Harmlose Hände. Trotzdem beschleicht mich ein Hauch Panik: Du bist mit diesem Mann alleine im Zimmer. Die Tür ist zu. Die Panik verstopft kurzfristig meine Ohren und sticht in meinem Gesicht. Genau wie im Büro meines Ausbildungsleiters. Als das ganze Dilemma anfing. Dieses Dilemma, meine ich. Dass ich jetzt hier sitzen muss und über etwas reden soll, worüber ich seit zehn Jahren schweige. Schweige, schweige, schweige! Natürlich haben viele gemerkt, dass ich oft unkonzentriert bin, verheult aussehe, dass mein Körper mit blauen Flecken und wulstigen Narben übersät ist, von denen jeder ahnt, dass sie nicht durch diverse Unfälle entstanden sind, sondern dass ich sie mir teilweise selbst zugefügt habe. In einem Anfall von Selbstverletzungsdrang.
Ich atme tief ein. Martin Krause schaut mich erwartungsvoll an.
Krause: »Weshalb sind Sie heute hier?«
Ich: Schweigen.
Krause: »Ihr Ausbildungsleiter hat Sie begleitet. Ist etwas vorgefallen oder warum sind Sie hergekommen?«
Ich: »Nein. Also, ja.« Schweigen.
Krause: »Was denn? Womit hat es zu tun? Könnten Sie mir zumindest einen Anhaltspunkt geben?«
Ich: Schweigen.
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 17. Juni 2011, 10 Uhr
Das Schweigen fällt mir nicht schwer. Es ist einfach da. Ich weiß, dass es manchen Leuten Stress bereitet, auf eine Frage nicht zu antworten und die Stille danach zu ertragen. Mir macht das nichts. Schon allein deshalb, weil ich keine Worte habe. Sie sind nicht in meinem Kopf. Stattdessen fühle ich, was der Polizist hören möchte. Ich fühle den ganzen Schmerz meiner Kindheit und Jugend. Permanent. Ich höre den schweren Atem meines Stiefvaters, rieche seinen Schweiß, spüre die Schmerzen, die er mir immer zugefügt hat. Höre meine Mutter im Nachbarzimmer, die genau gewusst hat, was ihr Mann mir gerade antut. Habe das Gefühl, den Boden unter mir zu verlieren. Wie früher. Kein Halt. Keine Chance zu entkommen. Und nicht mal eine Mutter, die mich beschützt. Ganz im Gegenteil. »Du kriegst das, was mir zusteht!«, hat sie mir manchmal vorgeworfen. Als ob ich das gewollt hätte! Als ob ich eine Wahl gehabt hätte!
Oder hätte ich die Wahl gehabt? Da ist es wieder: Ich hätte mich mehr wehren müssen!!! Ich bin so wütend auf mich selbst. So wahnsinnig wütend. Und enttäuscht. Und traurig. Und hilflos. Und verloren.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Wie immer. Kommissar Krause sieht mich einfach an und wartet. Dann ändert er seine Taktik.
Krause: »Sind Sie schon länger in der Ausbildung oder haben Sie gerade erst angefangen?«
Ich: »Seit Oktober 2010.«
Krause: »Und was haben Sie vorher gemacht? Sind Sie direkt von der Schule gekommen?«
Ich: »Nein. Ich habe 2008 Abi gemacht. Und danach.« Schweigen.
»Danach habe ich erst mal Pause gemacht.«
Krause: »Inwiefern Pause? Haben Sie zwei Jahre lang gar nichts gemacht oder haben Sie nebenbei gejobbt oder so etwas in der Art?«
Ich: Schweigen.
Krause: »Seit wann wohnen Sie denn nicht mehr zu Hause bei Ihren Eltern?«
Ich: »Gute Frage. Also offiziell umgemeldet habe ich mich direkt an meinem 18. Geburtstag. Aber ausgezogen bin ich eigentlich schon mit 17.«
Krause: »Wieso haben Sie sich dazu
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