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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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Autotür auf und setze mich auf den Rücksitz, aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich unwohl. Irgendwie ist es hier zu eng oder zu dunkel.
    Ich schmeiße meinen Rucksack nach vorn und quetsche mich auf den Beifahrersitz. Von hier aus hat man einen anderen Blick – ich sehe mehr vom Haus und dem Garten. Insgesamt mehr.
    Ich hole Ingrids Tagebuch aus dem Rucksack, stemme die Knie gegen das Armaturenbrett und lese.
    ACH, ALTROSA ABBLÄTTERNDER ANSTRICH!
     
    Du bist … – wie heißt das noch mal? Eine Alliteration! Aber du bist auch traurig, so wie ich traurig bin und immer trauriger werde, während die hübsche Farbe in Streifen abblättert. Das ist eine Metapher oder so was Ähnliches. Caitlin würde das wissen, und sie würde wahrscheinlich etwas sagen wie ›reiß dich zusammen‹ oder was anderes Schroffes. Sie weiß nicht, wie es sich anfühlt, ich zu sein. Vorhin habe ich mir die Beine rasiert und den Rasierer in einem bestimmten Winkel runtergedrückt, und es gab einen tiefen Schnitt, aber nicht tief genug. Ich hab das Gefühl, wenn ich nur etwas tiefer käme, könnte ich es durch den Tag schaffen. Aber es klappt einfach nicht. Ich muss eine richtige Messerklinge finden. Aber selbst mit einem normalen Rasiermesser ist Blut durch die Kniestrümpfe gesickert, die ich heute anziehen wollte. Bevor ich von zu Hause losging, merkte ich, dass der eine Strumpf am Knöchel schon braun wurde, deshalb musste ich sie ausziehen und in den Mülleimer werfen und Hosen anziehen und rennen, um Caitlin zu treffen, die anfängt, sich Sorgen zu machen, oder einen Verdacht hat oder sonst was. Dann sieht sie ganz ernst aus und sieht mich traurig an, wenn sie denkt, ich merke es nicht. Ich versuche brav zu sein und nehme all die Pillen, die meine Mutter mir ständig verabreicht, aber ich werde davon ganz rammdösig und kann nicht mehr klar denken. Jayson ist heute nicht in Bio.
    Eigentlich ist alles total überflüssig. Ich bin total überflüssig.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Ich schiebe das Tagebuch ins Handschuhfach. Ich wüsste gern, warum Ingrid mir von alldem nie was gesagt hat. Vielleicht hat sie gedacht, ich käme damit nicht klar, ich wäre zu behütet oder zu unschuldig oder sonst was. Wenn sie mir gesagt hätte, warum sie sich dauernd ritzt oder dass sie wegen der Tabletten immer so weggetreten war oder dass sie überhaupt Tabletten genommen hat oder beim Arzt war oder irgendwas davon, dann hätte ich ihr nach besten Kräften geholfen. Ich bin keine Superheldin. Ich wäre nicht angeflogen gekommen und hätte sie gerettet. Ich sage bloß, dass alles deshalb so sinnlos war, weil sie es sinnlos gemacht hat. Als ich noch ein ganz normales Leben hatte, dachte ich immer, alles wäre wichtig.

29
    Am nächsten Tag geht Taylor zu Beginn der Mathestunde an seinem üblichen Platz vorbei und setzt sich an den Tisch vor mir. Er sagt nicht
Hallo
oder irgendwas. Er sitzt nur mit dem Rücken zu mir da, als wäre das ganz normal. MrJames gibt uns unsere Tests zurück. Ich habe 89  Prozent geschafft. Ich kritzele auf dem Papier herum und versuche die Aufgaben zu lösen, die ich vergeigt habe.
    Taylor dreht sich um und sieht auf meinen Test.
    »Hey, sieh mal.« Er zeigt mir seinen. »Wir haben genau dieselbe Prozentzahl. Irre.«
    »Ja, super irre«, sage ich mit ironischem Unterton, dabei ich bin froh, dass er da sitzt und mit mir redet.
    »Wenn jemand von euch noch Fragen zum Test hat, kann er nach der Stunde zu mir kommen«, sagt MrJames. »Wir kontrollieren gleich die Hausaufgaben, aber zuerst will ich euch ein neues Projekt vorstellen. Wir machen mal was ganz Neues. Sucht euch einen Partner, und dann sucht ihr euch irgendeinen Mathematiker – von früher oder heute – und erstellt eine Präsentation für die Klasse, die das Leben, die Arbeit und das historische und politische Umfeld dieses Mathematikers zum Thema hat.«
    Dann redet er darüber, dass Mathe nicht nur in der Schule eine Rolle spielt, sondern auch im Alltag.
    Taylor dreht sich wieder zu mir um.
    »Wollen wir zusammenarbeiten?«
    »Können wir machen«, flüstere ich, und das Blut dröhnt mir in den Ohren. Er schaut wieder nach vorn.
    MrJames sagt: »Wenn die Teams feststehen, sagt mir Bescheid.«
    Taylors Hand schießt hoch.
    »Ja?«
    »Caitlin und ich arbeiten zusammen«, sagt er und beugt sich über seinen Test, als wäre er davon plötzlich total fasziniert. Ich spüre die Blicke der anderen auf uns. Mein Gesicht ist ganz heiß.
    Aber MrJames hat keinen blassen

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