Ich werde immer da sein, wo du auch bist
will nicht mehr an Ingrids Tagebucheintragungen denken, deshalb denke ich jetzt darüber nach, was ich tun würde, wenn Taylor mich küssen würde. Ich stelle mir vor, wie er mich in die Arme nimmt. Für ein paar Sekunden vergesse ich den ganzen Horror.
Mein Gesicht wird heiß. Der echte Taylor steht da, direkt vor mir, und es hat ihm offensichtlich die Sprache verschlagen. Jetzt steht auf seinem Shirt XES ROF KROW LLIW .
»Danke für die Hausaufgaben. Also, irgendwie ist es total abgefahren, dass du hier einfach aufgekreuzt bist. Aber danke.«
»Gern geschehen.« Er dreht sich um, geht zur Tür und bleibt stehen.
Dann sagt er: »Du hast das neulich von Ingrid erzählt. Wahrscheinlich wolltest du mir damit zu verstehen geben, dass meine Frage bescheuert war. Wie sie es getan hat. Wahrscheinlich bin ich auch gekommen, weil es mir leidtut, falls du das so aufgefasst hast.« Er hält inne, weil er etwas überlegt. Schließlich sagt er: »Es war brutal, wie du es mir gesagt hast. Ich hab mal was über die verschiedenen Stadien von Trauer gelernt. Danach bist du wohl in der Wutphase.«
Er sagt das von der anderen Seite des Zimmers, aber mir ist, als würde er mir die Kehle zudrücken. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Mir fällt nichts ein, was ich zu ihm sagen könnte, deshalb schaue ich nur auf den Teppich, und er sagt: »Bis morgen«, und dann bin ich wieder allein im Zimmer.
Ich hole mir Ingrids Tagebuch und will schon meine Nur-eine-Eintragung-pro-Tag-Regel brechen. Aber dann lege ich es wieder weg. Ich brauche was, das zuhört und antwortet. Ich suche in meiner Schublade nach dem Schultelefonbuch und finde
Schuster
. Da steht Dylans Nummer neben einem gepixelten Foto von ihr, auf dem sie wütend in die Kamera stiert.
Als sie rangeht, erkenne ich ihre Stimme. Sie ist leise, aber ein bisschen heiser.
»Hi. Hier ist Caitlin.«
»Oh, hey«, sagt sie, und ich bin ihr total dankbar, weil es so klingt, als wäre es total normal, dass ich sie anrufe.
»Äh, hm. Ich hab morgen nach der Schule eine Hausaufgabe in Fotografie. Und da hab ich mich gefragt, ob du vielleicht mitkommen willst. Wir könnten vorher in dieses Nudeldings oder woanders hingehen.«
»Ja, hört sich gut an«, sagt Dylan. Ich höre Gemurmel im Hintergrund. »Dann treffen wir uns bei den Spinden?«
»Okay, cool.« Ich bin froh, dass sie nicht hier ist und sieht, dass ich wie eine Idiotin heftig nicke.
Ich lege auf und geh raus, in mein Auto. Ich höre Musik, bis ich einschlafe.
28
Ich dachte, es wäre leicht, eine hässliche Landschaft zu finden, aber das stimmt nicht. Dinge, die sonst hässlich und unscheinbar sind, sehen anders aus, wenn ich durch den Sucher schaue, alles wird bedeutsam. Die Lücken zwischen Ästen in einem traurigen Gehölz verwandeln sich in ein echt cooles Beispiel für negativen Raum. Ich dreh mich auf der Achse herum und sehe zur Mall hinüber. Halb erwarte ich ein Wunder, aber sie bleibt auch durch den Sucher hässlich. Ich will gerade auf den Auslöser drücken, als Dylan mich aufhält.
»Warte. Deine Lehrerin wird denken, dass du eine Aussage machen willst. Ungefähr nach dem Motto ›Caitlins fabelhafter Kommentar zu unserer Konsumgesellschaft‹ oder so was.«
Ich lasse die Kamera sinken. »Du hast recht. Wir müssen einen Ort finden, der nur aus Dreck besteht.«
Dylan schlürft ihren Kaffee. »Es gibt ein Grundstück in der Nähe von unserem Haus, das sie gerade plattmachen.«
Wir laufen los.
Dylan wohnt in entgegengesetzter Richtung von mir im Neubauviertel der Stadt. Die Häuser sind gigantisch groß. Manche wollen spanisch aussehen, mit weißem Verputz und Ziegeldächern. Andere sind einfach riesige moderne Kästen.
Wir kommen vor diesem Grundstück an und bleiben stehen.
»Das ist genau das, was ich suche.« Ich starre die dreckige Erde an.
»Ich glaube, hier will jemand ein Haus bauen.«
Ich fummele an der Blende herum.
»Was machst du da?«
»Ich will es überbelichtet und verwackelt.«
Dylan lacht. »Und warum willst du, dass das Bild so mies wird?«
»Meine Lehrerin hasst mich, und ich hasse sie.«
»Klingt gesund.«
Dylan sieht zu, wie ich ein paar Aufnahmen von dem Gelände mache. Das Licht ist genau so, wie ich es haben möchte – nicht zu hell. Der Kontrast zwischen Erde und Himmel wird fast verschwimmen. Nachdem ich ein paar Bilder gemacht habe, fragt Dylan: »Warum hasst sie dich?«
Ich möchte es ihr gern erklären, sie wird nicht ausflippen wie meine Eltern. Ich höre auf zu
Weitere Kostenlose Bücher