Ich werde schweigen Kommissar Morry
waren Sie zum Zeitpunkt des Mordes? Haben Sie den Schuß gehört? Waren Sie Zeuge des Verbrechens?“
„Nein“, würgte Daisy Hoorn hervor. „Ich sah nichts. Ich entdeckte den Toten . . . ich sah Mark Vereston erst, als ich das Haus verlassen wollte. Das war vor ungefähr einer halben Stunde.“ „Moment mal“, wurde sie unterbrochen. „Waren Sie Gast bei Mr. Vereston?“
„Ja“, stammelte Daisy Hoorn, und sie schämte sich plötzlich, als sie den abfälligen Blicken der Beamten begegnete.
„Mr. Vereston hatte mich eingeladen. Er wollte mir die Kostbarkeiten zeigen, die er aus Brasilien mitgebracht hatte. Er war ja kein Fremder für mich. Ich habe ihn in der Navarra-Bar oft bedient.“ „Hm“, sagten die Beamten. Sonst nichts. Eine Weile herrschte kühles Schweigen.
Dann richtete plötzlich wieder der Wachtmeister das Wort an sie.
„Haben Sie diese Blume schon einmal gesehen?“, fragte er lauernd. „Gibt es solche Blüten in Ihrer Bar zu kaufen? Oder haben Sie sie ihm persönlich geschenkt?“
Jetzt erst sah Daisy Hoorn die dunkelrote Blumenblüte, die in der verkrümmten Handfläche des Toten lag. Sie hatte sichelförmige Blätter und einen weit geöffneten Kelch. „Ich könnte schwören“, murmelte Daisy Hoorn, „daß Mark Vereston diese Blume bei seinem Weggang nicht bei sich hatte. Man muß sie ihm erst nach seinem Tode in die Hand gelegt haben.“
„Sehr merkwürdig“, murmelten die Beamten. Sie beförderten die Blume mit spitzen Fingern in ein Etui und legten den seltsamen Fund am nächsten Tag Professor Petersen vor, der Scotland Yard in allen botanischen Fragen als Sachverständiger zur Seite stand.
„Diese Blume“, erklärte er, „ist eine rote Tungasblüte und kommt fast nur in den sumpfigen Urwäldern Brasiliens vor. Man findet sie hauptsächlich am Amazonas und seinen Nebenflüssen. Die Blüte selbst ist harmlos, aber die Wurzeln der Pflanze bergen ein sehr gefährliches Gift. Ich erinnere mich, daß die Ureinwohner Brasiliens ihren Toten solche Blüten mit ins Grab gaben. Sonst noch eine Frage, meine Herren?“
Nein, die Beamten der Mordkommission gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden.
Sie hatten ohnehin nicht im Sinn, diesen heiklen Fall weiter zu bearbeiten. Schließlich war der Tote immerhin Abgeordneter gewesen, und bei Mitgliedern des Parlaments erforderte die kriminalistische Arbeit viel Takt und Zurückhaltung. So wurde beschlossen, den Mordfall Mark Vere- ston in die Hände des Sonderdezernats zu legen. Schon am nächsten Tag fand Kommissar Morry die dünne Akte auf seinem Schreibtisch vor.
3
Es war schon zehn Uhr abends, als Richard Donally endlich die Feder aus der Hand legte. Er war rechtschaffen müde. Die Augen brannten vor Überanstrengung. Der erschöpfte Körper sehnte sich nach Ruhe. Und dennoch dachte Richard Donally noch nicht daran, sein Nachtlager aufzusuchen. Er nahm wieder die Zeitung zur Hand, in der er schon am Morgen aufgeregt geblättert hatte. Zum zehnten Mal las er den Artikel, der in fetten Lettern auf der ersten Seite prangte.
Vor seinem geistigen Auge rollte der schauerliche Mord noch einmal ab, der dem Abgeordneten Mark Vereston das Leben gekostet hatte. Er sah ihn hilflos vor sich liegen. Er glaubte, sein letztes Stöhnen zu hören. Er sah die rote Blume in seiner Hand. Ob Irving etwas damit zu tun hatte, überlegte er zerfahren. Ob er um das Geheimnis dieser roten Blume weiß? Er war doch dabei in Brasilien. Er ist ebenfalls Abgeordneter im Unterhaus. Warum läßt er sich nicht sehen? Warum versteckt er sich? Warum fehlt er seit Tagen bei den Beratungen seiner Fraktion? Das Läuten der Flurglocke fiel in seine Gedanken. Richard Donally horchte nervös den schrillen Tönen nach. Das wird er sein, dachte er. Wenn er noch so spät kommt, hat er sicher etwas auf dem Herzen. Mit raschen Schritten ging Richard Donally in den Korridor hinaus. Er öffnete die Tür. Das helle Licht der Treppenbeleuchtung blendete ihn ein paar Sekunden lang. Er kniff die Augen zusammen. Vor ihm stand sein Stiefbruder Irving Bacon, der Mann, an den er eben noch gedacht hatte. Er machte einen kranken und elenden Eindruck. Auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß. In den Augen stand nackte Angst.
„Was ist?“, fragte Richard Donally erschrocken. „Wie siehst du aus? Hast du etwas mit der Polizei... ?“
Irving Bacon drängte ungestüm in die Wohnung. Vorher aber blickte er noch argwöhnisch ins Treppenhaus hinunter, als hätte er Angst, daß ihm
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