Ich will doch nur normal sein!
Mädchen. Ich habe davon noch nichts geschrieben, weil ich mich so sehr schäme und weil es zu grausam und zu unerträglich ist. Mir ist das nicht passiert, ich lebe noch und das ist für mich das Schlimmste, was mir nach diesen Erinnerungen passieren kann – noch da zu sein, übrig zu sein und nicht auch tot.
Ich fühle mich einfach schon schuldig, weil ich noch lebe und nicht auch tot bin.
Tagesbericht 8.11.2005
Ich habe heute viel an die Mädchen gedacht, wie viel Leid ihr Verschwinden ausgelöst hat und ich habe heute besonders auf Kinder in diesem Alter geachtet. Lange habe ich allein in der Sonne auf der Bank gesessen und mir gewünscht, es wäre endlich vorbei.
Ich denke, ich lebe nur noch aus Rücksicht auf meinen Mann, die Tiere und das Versprechen, das ich Herrn Dr. S. gegeben habe, lässt es auch nicht zu.
Ich lebe nicht mehr, weil ich es noch will. Aus diesem Grund habe ich Sie (meinen Therapeuten) heute gebeten, sich auf meinen Stuhl zu setzen, an meine Stelle. Ich weiß, es war nicht in Ordnung, dass ich das wollte, dass Sie merken, wie es mir geht, damit weiter zu leben zu müssen.
Eigentlich möchte ich gar nicht, dass das hier jemand liest, aber ich schreibe es jetzt trotzdem noch (23 Uhr) mit PC, damit Sie sich nicht so mit meiner kleinen Schrift quälen müssen. Ich habe heute nämlich wieder sehr klein geschrieben, das passiert immer, wenn es mir nicht besonders geht und ich werde es nicht im Schwesternzimmer abgeben. Aber Sie sollen es lesen, damit Sie verstehen, wie schwer es mir fällt, mich an das Versprechen zu halten, das ich Ihnen gegeben habe. Es wäre besser gewesen, ich wäre damals auch verschwunden, so wie die Mädchen verschwunden sind – einfach weg. Tot. Ruhe.
Aber ich bin noch da und es ist wie eine Strafe, noch da zu sein. In der letzten Zeit bin ich manchmal wütend, weil da das Versprechen existiert, weil da mein Mann ist, den ich allein lasse und weil ich nicht einfach ausbrechen kann und das tun, was ich will. Ja – das was ich will und nicht das, was Andere möchten und erwarten.
Ich schleppe soviel Tod mit mir herum, in mir nun, dass ich sowieso nicht mehr richtig lebendig bin.
Es sind grauenvolle Morde an kleinen Mädchen, vor meinen Augen passiert. Ich stand dabei, daneben, habe gesehen, was da alles Schlimmes mit den Mädchen gemacht worden ist, was die Männer getan haben und wie es ihnen Spaß gemacht hat. Ich habe sie gehört und habe das Mädchen gehört, wenn es geweint und geschrieen hat. Sie haben soviel mit dem Mädchen getan, eh es nicht mehr geschrieen hat, eh es ganz still und tot war und ich habe das alles beobachten müssen, gespürt, gerochen, stand einfach nur da und wusste nicht, was da passiert. Warum, sie so still ist und sich nicht mehr bewegt. Der Kopf nach hinten runterhängt und die Hände schlaff daliegen. Ich habe sie statt sie streicheln zu dürfen, geschnitten – mit einem Rasiermesser. Ich habe sie dabei berührt, da war sie noch nicht tot. Sie hat mich angesehen und meine Hand hat geschnitten, tief und immer weiter, es hat geblutet und ich hatte das Blut an meiner Hand. Sie hat geschrieen und geweint und gesehen, was passiert. Später war sie dann auch tot. Es war immer eine lange Zeit, bis es vorbei war und ich stand dabei und mir passierte in dieser Zeit nichts – ich war sicher, ich wurde nicht umgebracht.
Wissen Sie, ich denke, als die Mädchen damals nicht mehr geschrieen und geweint haben, still und tot waren, da war es vorbei für sie. Tod – Ruhe. Für mich wird es nie vorbei sein!
Ich weiß ja nicht einmal, ob das Alles war, oder ob es noch weiter geht?
Jetzt traue ich mich nicht einmal mehr, mich zu schneiden um es den Schwestern nicht anzutun. Dabei tu ich es mir doch an und niemand anderem. Aber die Schwestern sagen mir ständig, ich soll mich melden und ich verspreche es dann, um sie zu beruhigen und so halte ich es kaum aus, aber tu es den Schwestern nicht an. Verdammt noch mal, das war meine Chance, mein Weg, es auszuhalten, mir zu helfen, wenn ich das Gefühl nicht aushalten kann in meinem Kopf, den Druck, wenn ich Angst habe durchzudrehen. Auch um mir zu helfen, mich nicht umzubringen, um es aushalten zu können, um schlafen zu können, um die Schmerzen wegschneiden zu können und zuletzt auch um mich zu bestrafen, mir den gleichen Schmerz zuzufügen, wie ich es damals (auch wenn ich es nicht wollte) tun musste.
Um mich zu bestrafen, dass ich noch da bin und nicht auch weg, damit ich nicht mehr zu meinem
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