Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Wahrscheinlich habe ich die Szene in der Küche gestern nur geträumt. Wahrscheinlich ist das eine reine Fieberfantasie meines überhitzten Gehirns.
Aber nein. Das Gefühl seiner Berührung und seiner Lippen auf meinen ist äußerst realistisch. So was kann man sich nicht einbilden. Dazu ist kein Hirn in der Lage, egal wie viele Nervenendplatten und Signalsubstanzen oben im Dachstübchen Amok laufen.
Ich dusche, ziehe Vivis Jeans an und ein khakifarbenes Hemd mit dunkler Strickjacke drüber und setze mich an den Frühstückstisch. Mama ist schon da. Sie hat das Kinn in die Hand gestützt und sieht blass aus.
»Noch immer angeschlagen?«, frage ich.
Sie lächelt. »Ich bin okay. Aber ich glaube, ich brauche Luftveränderung. Vielleicht sollten wir mal ein Wochenende irgendwohin fahren? Nur du und ich und Anders.«
Sie sagt sonst immer »Papa«, wenn sie mit mir über ihn redet. Ich habe schon manches Mal darüber nachgedacht, wann sie wohl aufgehört haben, Anders und Livia füreinander zu sein. Aber nun nennt sie ihn also bei seinem Namen.
»Das wäre nett«, sage ich.
Ich schütte Haferflocken und etwas Milch in eine Schüssel, kriege aber keinen Bissen runter. Mein Magen ist über Nacht geschrumpft und hat sich verknotet.
»Tut mir leid«, sage ich, »aber ich kriege nichts runter. Magst du?«
Mama sieht mich an. »Ist dir schlecht?«
»Nein. Doch. Nein, ich meine … alles okay. Ich habe bloß keinen Hunger.« Ich stehe auf. »Bis heute Abend.«
Ich gehe die Treppe runter und hole das Fahrrad aus dem Fahrradraum, obwohl es noch viel zu früh ist. Aber ich muss raus, an die Luft. Es ist ganz schön kalt geworden. Als ich die Allee überquere, fällt mir auf, dass die Birken schon ganz gelb sind.
Ich stehe fast zehn Minuten an der Kreuzung, bis Tonja angestrampelt kommt. Sie hat ihre rote Baskenmütze aufgesetzt und die Herbstjacke an.
»Hallo«, ruft sie. »Saukalt ist das!« Sie klappt den Ständer von ihrem Rad runter, kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. »Tut mir leid.«
»Mir auch«, sage ich und bin positiv überrascht, dass sie sich zuerst entschuldigt hat.
Tonja legt den Kopf auf die Seite und grinst. »Das mit Sven, ist das … weiß er es schon? Außer dass er wahrscheinlich selbstverständlich davon ausgeht, dass alle Mädchen ihn lieben.«
Ich nicke. »Er … hat von sich aus gesagt … dass er in mich verliebt ist.«
Tonja sieht mich skeptisch an. »Wir reden vom gleichen Sven, oder?«
»Ich glaube schon.« Jetzt muss ich auch grinsen.
»Shit! Was hast du mit ihm gemacht?«
»Nichts.«
Tonja lacht. Im nächsten Moment wird sie wieder ernst. »Aber was … woher willst du wissen, was das für ihn bedeutet? Vielleicht will er dich nur ins Bett kriegen und dann guckt er schon der Nächsten hinterher.«
Ich ziehe die Schultern hoch. »Das Risiko muss ich eingehen.«
Tonja schüttelt den Kopf und steigt wieder auf ihr Rad.
»Doofe Nuss«, sagt sie und tritt in die Pedale.
Aber ich sehe das Grübchen in ihrer Wange.
Nachdem wir die Räder abgestellt haben und das Schulgebäude betreten, lächelt keiner mehr von uns.
Es tut mir furchtbar leid, Nils wehtun zu müssen, und ich bin nervös, Silja wiederzusehen. Beim Gedanken an die Konsequenzen für Emil wird mir ganz schlecht, und es ist mir schleierhaft, wo ich mit der Schadensbegrenzung anfangen soll.
Tonja und ich nehmen das Informationspapier über Windkraft und unsere Ringblöcke aus dem Schrank. Ich habe gerade meinen Schrank abgeschlossen, als Lukas und Nils kommen. Es sind noch drei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Ich sehe Nils an und überlege, ob ich lieber warten soll, bis wir etwas mehr Zeit haben. Aber er hat schon gemerkt, dass etwas nicht stimmt.
»Ich habe dich gestern nicht mehr angerufen«, sagt er leise, als wir die Treppe hochgehen. »Ist dir das überhaupt aufgefallen?«
Ich bleibe ihm die Antwort schuldig. Nein. Es ist mir nicht aufgefallen. Aber das kann man doch nicht sagen.
»Du musst mit mir reden«, sagt Nils. »Wenn wir nicht miteinander reden, können wir vielleicht auch nicht zusammen sein.«
»Das ist nicht so einfach«, sage ich.
»Was stimmt nicht?«, will er wissen. »Habe ich irgendwas falsch gemacht?«
»Nein!«, sage ich eilig. »Nein, es liegt nicht an dir, du bist ganz toll, ich mag dich sehr, aber …«
»Aber du willst nicht mit mir zusammen sein, oder was? Scheiße, Vendela!«
Lukas wirft einen Blick über die Schulter nach hinten, weil Nils für seine Verhältnisse
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