Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
erfährt, ihre Mitnahme mit der Drohung, alle zu denunzieren. Um diese Gruppe bewältigen zu können, kontaktiert die »Reiseleiterin« zwei junge Freundinnen mit der Bitte, das Quintett als Begleitschutz bis nach Vorarlberg zu unterstützen. Berthe Schlüter kommt aus Heidelberg angereist, und die junge und temperamentvolle Margarete Roesner macht sich aus Oberschlesien auf den Weg zum Lützowplatz. Schon deshalb verschiebt sich die Abreise um eine Woche.
Am 15.
April machen sich die sieben Frauen mit elf Koffern auf die Reise. Die Bahnfahrt über München und Lindau führt bis nach Bregenz. Von dort aus, so die Planung, sollen die grenznahen Städtchen in der Nähe des Rheins, der hier Grenzfluss ist, in kurzen Etappen erreicht werden.
Die mit gefälschten Attesten als Kurgäste getarnte Expedition der Damen und ihrer »Pflegerinnen« steigt, um nicht zu sehr aufzufallen, in verschiedenen Gasthöfen ab. Jenseits der Grenzewird die Kontaktaufnahme erwartet, Heinz Hammerschlag hat in monatelanger Kleinarbeit die Vorkehrungen getroffen und auf Artur Sommers Dienstwegen das Notwendige nach Berlin berichtet. So soll Gertrud Kantorowicz gleich nach der Ankunft am Bodensee die Telefonstafette zu den Schleppern in Gang bringen, das sieht jedenfalls die Planung dies- und jenseits der Grenze vor. In vier bis fünf Tagen, so die Annahme aller Beteiligten, ist es ausgestanden. Doch es wird kompliziert. Schon bei der Abfahrt in Berlin geht es nicht glatt. Noch fünfzig Jahre später erzählt Margarete Roesner von der unvergessenen Fahrt:
»Erst einmal war es aber schon so, dass die Fahrkarte für mich nicht da war und erst noch besorgt werden musste. Und dann die Frau Winter, die ja schon auf dem Weg zum Sammelplatz gewesen war, die hinkte. Das war ein ziemlich großes Hemmnis für unser Fortkommen. Von Berlin nach München saßen wir in zwei Abteilen, und Gertrud Kantorowicz erzählte immer vom Ersten Weltkrieg und ihrer Schwesternhilfe beim Roten Kreuz und wie fabelhaft das war. Sie war so souverän, man kam überhaupt nicht auf den Gedanken, dass sie Jüdin und deprimiert war.
Und allen ist gesagt worden, es darf keinerlei Schmuck, Goldschmuck und irgendetwas sonst mitgenommen werden. In München dann, Gertrud Kantorowicz und ich bleiben in der Wohnung der Tochter von Sabine Lepsius, die anderen gehen in die Stadt und gucken sich ein bisschen um, kontrollieren wir beiden das Gepäck. Da haben wir sofort das Gold herausgenommen. Clärchen, die Tante von Gertrud, war so stolz auf ihre Ahnen – spanischer Uradel, jüdischer Adel –, die hatte eine Art Ahnentafel oder so etwas in ihrem Gepäck. Da sagte Gertrud: ›Geht nicht!‹ […]
Und am nächsten Morgen sind wir dann nach Bregenz gefahren. Wir sind vollkommen ohne Großgepäck von Münchenweg. In Bregenz steigen wir aus, und da geht Gertrud in eine Telefonzelle, wo es dann zu diesem berüchtigten Telefongespräch kommt. Der Ladenbesitzer von dem Dorf [Hohenems] hatte Geld gekriegt, damit er ihnen behilflich sein würde … und da hat dieser Ladenbesitzer [der Südfrüchtehandlung Sandholzer] gesagt:
›Wenn Sie nicht sofort abhängen, werde ich Sie bei der Polizei melden.‹
In der Telefonzelle hat sie sich noch etwas Zeit gelassen, bevor sie zurück zu den andern vier ging. Und dann hat sie ganz überlegen und ganz ohne Aufregung gesagt:
›Ach, da ist eine kleine Verzögerung eingetreten, und wir werden jetzt erstmal nach Bludenz gehen.‹
Dort kamen wir mit dem Zug an. Auf dem Weg zu irgendeinem Hotel war erst einmal Fliegeralarm, und Gertrud geht zu einem Polizisten und fragt:
›Wo ist hier der nächste Luftschutzkeller?‹
Also die fünf, bei denen merkte man nicht unbedingt, dass das Jüdinnen waren, die über die Grenze wollen. Es war nicht so ganz hoffnungslos!«
Angela Rammstedt schreibt über die Odyssee in ihrem Bericht »Flucht vor der ›Evakuierung‹«:
»Die ›kleine Verzögerung‹ sollte sich auf mehrere Wochen ausdehnen – Wochen höchster Anspannung für die täglich einer neuen Chance harrenden alten Damen. Sie und ihre Begleiterinnen geben sich nun als Erholungssuchende, wechseln ihre Aufenthaltsorte und vermeiden gemeinsames Auftreten. Was ihnen die Quartiersuche zusätzlich erschwert haben mag, ist der Aufruf, der Aufenthalt in den Fremdenverkehrsorten sei in erster Linie den ›Fronturlaubern‹ und ›Angehörigen der Rüstungsbetriebe‹ zu gewähren.«
Der Kontakt muss neu aufgebaut werden. Berlin soll helfen, das
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