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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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schnell und unüberlegt für ein paar nur scheinbar schöne Tage die alten, Dich gewiss mit Recht drückenden Ketten ab. Aber diese sind doch immer die zuverlässigsten und treuesten gewesen und geblieben, es scheint nun doch einmal Dein Schicksal, sie zu behalten. Es kann ja nicht jeder nach seiner Farbe hemmungslos leben, sondern hat sich Verpflichtungen und Beschränkungen als anständiger kultureller Mensch aufzuerlegen. Leider hast Du das oftmals nicht befolgt. Als Du jünger warst, schrieb ich es Deinem Leichtsinn zu, bis heute besitzt Du noch keine Lebensklugheit und musst immer wieder so bitter dadurch büßen. Gott gebe, dass Du auch jetzt darüber hinwegkommst, meine Sorgen und Gebete sind nur bei Dir.
    Ja, mein Geliebtes, ein Kitschroman ist Dein bisheriges Leben zu nennen; das meine war zwar nicht so wechselvoll und bunt, war behütet gewesen durch eine andere Zeit, aber auch nicht glücklich. Ich hatte mir das Deine wenigstens freudvoller und geebneter gewünscht und gedacht, vielleicht kommt die glückliche und gute Strähne noch bei Dir, warum solltest Du denn diese nicht verdient haben? Du bist doch ein guter Kerl und erblich nicht schlecht belastet. Gerechtigkeit lässt oft lange auf sich warten. Also Kopf hoch, mein Einziges, sage ich heute zu Dir, Du bist gottlob gesund und jung.
    Was die Aufregungen des Studiums betreffen, wundert mich das nicht, allem Erforderlichen nicht genügt zu haben, denn mit solchen innerlichen Zersplitterungen und einschneidenden Ablenkungen kann man doch nicht geistig arbeiten, und es muss demzufolge ein ungünstiges Fazit entstehen. Gräme Dich aber nicht auch darum, wenn vielleicht mal Ruhe in unser Leben kommt, wirst Du Dich konzentrieren können und schaffen, was Dir noch zur Vollendung fehlt. Gut wäre es, wenn Du Dich nutzbringend beschäftigen könntest und etwas verdientest, es müsste dies doch jetzt möglich sein und würde Dir sicher Befriedigung geben.
    Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Mieze in Todesängsten auf das Fortschreiten ihrer Krankheit wartet, und findet sich jetzt auch damit ab, nachdem ihr nicht zu helfen ist. Dr.

Sommer will sich jetzt bemühen, aber Mieze befürchtet, es bleibt ihr keine Zeit, das noch abwarten zu können. Ich spreche ihn morgen. Bei mir kann jede Stunde veränderlich sein; mein Gottvertrauen und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Dir werden mich stark machen, durchzuhalten. Bleibe also auch Du es mit dem begonnenen Frühling und gesunde seelisch durch die Sonne, die fortan mit uns sein möge. Ein Auferstehen nach dem eisigen, dunklen Winter.
    Schreibe mir schnell wieder, wie es Dir geht und ob Du mit Fredi gesprochen hast.

    Ich küsse Dich in heißer Sehnsucht,
Deine Mutti

    Berlin, den 29.

März 1942
    Meine geliebte Ille,

    Vielleicht bist Du schon in Deinem Landdienst, obwohl es z.

Zt. besser wäre, Du wärst zu Hause, damit Du über Dispositionen erreichbar bist. Ich komme nämlich gerade von Dr.

Sommer, der mich in meiner Verzweiflung wieder beruhigte, indem er mit Edgar wegen der Hochzeit korrespondierte. Er ist geradezu rührend in der Betreuung und Hilfsbereitschaft. […]
    Wenn nur, gottbehüte, nicht allseitiger guter Wille an dem momentan herrschenden Hochbetrieb der pausenlosen »Abreisen« scheitert, es ist kaum noch möglich, die Nerven zu behalten.
    Nur die Hoffnung gibt mir Kraft, aber es ist für alles höchste Zeit, mehr kann ich nicht sagen. Wenn man sein Gottvertrauen nicht hätte, aber, aber. – Wie geht es Dir, mein Gutes? Was ist inzwischen aus Deinen seelischen Konflikten geworden? Ach Gott. Aber alles wäre noch zu überwinden und zu machen, wenn ich gesunden könnte. Bete für mich, dass ich Dir erhalten bleibe. Verlebe die schönen Ostertage im Sonnenschein und schreibe mir, denn ich habe sonst hier nichts, was mich mehr erfreut. Ich grüße Edgar und danke ihm für seinen Beistand Dir gegenüber.

    Dir 1000 innige Küsse in schrecklicher Sehnsucht –
Deine Mutti
    Am 31.

März erhält Marie den »Mistbrief«, der sie reisefertig für den 2.

April zur Sammelstelle auf das Gelände der ehemaligen Synagoge an der Moabiter Levetzowstraße befiehlt. Der Transport mit 984 Berliner Jüdinnen und Juden wird am Donnerstag vor Ostern nach Warschau abgehen, Maries Geburtsstadt.
    Marie zieht sich an diesem 2.

April die guten Bally-Schuhe – vielleicht die braunen – an, die sie in weiter Voraussicht für eine lange Reise bei ihrem Besuch 1937 in Basel angeschafft hatte. Sie

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