Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
dauert, denn telefonieren ist zu gefährlich. Die Lebensmittelkarten gehen aus und auch das Geld für die Unterkünfte wird knapp, obwohl Paula Korn 2246 Reichsmark in ihre Kleidung eingenäht hat, aber nichts rausrücken will. Margarete Roesner erzählt weiter:
»Und dann kamen Geld und Lebensmittelkarten und was sonst noch alles [war]. Ab und zu sind Gertrud Kantorowicz und ich ein bisschen in die Gegend gegangen – ich glaube, eintauschen konnte man kaum noch.
Übernachtet haben wir in zwei Hotels, sogenannten Hotels – relativ einfach. Da gab es dann auch so einen Restaurantbetrieb, wo man abends auch mal einen Teller Suppe bekam – schwierig, schwierig. Und sie [Gertrud Kantorowicz] ging jeden Tag in die Umgebung, möglichst um Leute an der Grenze anzusprechen, ob die ihnen irgendwie weiterhelfen konnten.
Abends kommen die Deutschen Grenzer [in den Gasthof] und verlangen von allen die Ausweise. Und die waren kümmerlich. Eine hatte eine Kleiderkarte, die andere von einem Ahnenausweis ein Stückchen ausgeschnitten, und Gertrud hatte auch noch das letzte Kitzpitzel von sich an die Frau Winter abgegeben, glaube ich. Da kamen also zwei Polizisten an unseren Tisch heran … und Gertrud hatte nichts. Und ich war da als junges Mädchen in der Gruppe von alten Damen. Die Tante von der Gertrud war ja schon 80. Die anderen hat man nicht so unbedingt beachtet, aber da ich von Renatas Bruder, der im Auswärtigen Amt tätig war, ein Visum für die Schweiz hatte, mit dem ich seine Schwester [der Besuch der ›Symmachoi‹ im Sommer 1941 bei Renata] besuchte, sagten die: ›Was, wieso, was machen Sie denn hier?‹ Die haben wohl gedacht, dass ich vielleicht eine Spionin bin.
Und Gertrud saß neben mir und machte so eine Handbewegung: ›Ach, Margaretchen. Ist doch alles nicht so schlimm‹, und strich mir über den Rücken und ging an mir vorbei zur Tür und raus. Die war so unwahrscheinlich, so unglaublich!
Am nächsten Tag waren wir wieder zusammen, vielleicht in einem anderen Lokal. Und sie war vollkommen souverän. Sie erlaubte nicht, dass man panisch war.«
Nach etwa vierzehn Tagen der Ungewissheit und Anspannung schickt Gertrud Kantorowicz die beiden Begleiterinnen nach Hause, um sie außer Gefahr zu bringen. In den ersten Maitagen gelingt endlich der Kontakt über die Grenze. Es lässt sich rekonstruieren, dass die fünf Frauen sich zu diesem Zeitpunkt im Städtchen Hohenems in den Gasthäusern Habsburg und Freschen aufhalten, deren Wirte immer noch bereit sind, bei Bezahlung ein Zimmer an Juden zu vergeben und auch Schlepper anzusprechen. Anfang Mai schickt Marie eine Ansichtskarte nach Basel. Sie schreibt, dass sie im Anblick der Schweizer Gebirgszüge auf der gegenüberliegenden Talseite zuversichtlich sei, bald mit ihrer Illepuppe »vereint zu sein«.
Während Ilse und die Stapfelbergerinnen in Basel und Margarete Susman und Heinz Hammerschlag in Zürich täglich auf den erlösenden Anruf warten, meldet sich Willi. Schon seit Monaten hat er keine Nachricht von Ilse. Offensichtlich hat Illepuppe die ganze »Hiroshi-Zeit« über nicht an ihn geschrieben – Willi sitzt fest.
Charlieu, den 5.
Mai 1942
Schreibe bitte an Mutti meine heißesten Wünsche und dass meine große Hoffnung bleibt, sie wiederzusehen. Schreibe mir doch recht ausführlich, was Mutti macht und wie es Dir selber geht. Ich selbst sitze hier in erzwungener Tatenlosigkeit und muss darüber auch noch froh sein. Aber andererseits rückt das Gespenst der Mittellosigkeit schon in recht beträchtliche Nähe. Jetzt sind es schon zwei Jahre her, dass ich Paris verlassen habe. Ich habe mir die Zeit ein wenig damit vertrieben, dass ich eine Kreuzworträtsel-Abart kreiert habe, wobei ich den Gedanken hatte, dass Du solche Rätsel bei deutschsprachigen Zeitschriften, ich lese hier die Weltwoche , gegen bescheidenes Honorar unterbringen könntest. Ich lege Dir ein Exemplar bei.
Aber ich will die Flinte noch nicht ins Korn werfen, denn ich möchte zu gern noch das Ende der Weltschrecken erleben.
Dein alter Onkel
Willi
Auch im Fälkli warten die Freundinnen seit Wochen auf das »Wagnis«. Jede Nacht beobachten sie den Mond, steht er günstig oder eher ungünstig für die Flucht? Am Mittwoch, den 6.
Mai ist es so weit. Die beiden erfahrenen Schweizer Schlepper, der zwanzigjährige Hermann Kühnis und sein Freund Jakob Spirig, machen sich am Abend auf den Weg zum Zaun. Sie kennen jeden Stein im Gestrüpp, über 150-mal sind sie diesen Weg
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