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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Eine Woche später, am 7.

April, schreibt Marie unter falschem Absender an Ilses NachbarinLouise Köhler, jene Frau, die vor fünf Jahren versucht hatte, Marie in Basel zu halten. Es ist die einhundertzweiundsiebzigste und letzte Nachricht von Marie aus den Schuhkartons. Sie schreibt aus dem Schutzasyl.

    Berlin, den 7.

April 1942

    [Adressat] Frl. Louise Köhler, Hardstrasse 63 III – Basel, Schweiz
    [Absender] Auguste Heller, Bln Charlbg, Wundtstr. 52

    Mein Geliebtes!

    Wenn Du wüsstest, in welcher Situation ich mich befand, als Deine Karte aus Deinem Bauernhof ankam! Ein schwarzer Tag! Mehr kann ich nicht sagen, aber gottlob endigte er gut, weil ja Mieze nach Großvaters Meinung immer die »Klügste« war. Plötzlich und unerwartet sollte der Besuch zu Hertha [Misch war nach Łódź deportiert worden] steigen! Ich verweise auf meine Nachricht in der letzten Karte, fühlte mich nicht kräftig genug, um diese Osterfahrt mitzumachen, und warte auf bequemere Art, Ferien zu machen. Inzwischen tragen gute Freunde nach Kräften zu meiner Gesundung bei, und ich wünsche nur, wir würden bald Gelegenheit finden, uns dankbar zu erweisen. An Deine Mitteilungen über Reisemöglichkeiten glaube ich nicht, ebenso wenig, dass die Hochzeit Deinerseits bewirkt wird. Trotzdem wollen wir auf Erfüllung unserer Wünsche des Wiedersehens hoffen.
    In dem sonnigen Zimmerchen, in dem ich gerade zu Besuch bin und diese Zeilen schreibe, befindet sich eine Bibliothek, die eine Wonne für Dich wäre; Werke auf allen Gebieten, die Dich begeistern würden – dass Du durch Deine Landarbeit die sehr nötige Erholung im Freien findest, beruhigt mich ein wenig, wenn auch viele Unbequemlichkeiten dabei sind. Du hast ja so etwas zeitweise ganz gern, auch trinkst Du Milch sehr gern, und hoffentlich kriegst Du mal ein Ei gegen Extrazahlung.

    Jedenfalls sieh zu, dass Du gesund und gekräftigt zurückkommst. Lebe wohl und sei allerherzlichst geküsst von Deiner Mieze-Gusti

    N.

S. Du musst für heute mit diesem kurzen Lebenszeichen vorlieb nehmen, wenn ich kräftiger bin, lasse ich Brief folgen
    Kuss
    Maries letzte Postkarte vom 7.

April 1942
    Diese Karte findet Ilse am Tag ihrer Rückkehr nach Basel, durchgeschoben unter ihre Tür. Es ist der 14.

April 1942. Sie schreibt in ihr Notizbüchlein:

    »Heimfahrt
    8,– Franken Butter, Käse
    Koffer 3,– Fr.
    Zürich Sprüngli
    Abends Besuch Edgar – Oertl.«
    Am nächsten Tag bringt der Professor auf amtlichem Briefbogen zu Papier, was am Vorabend gemeinsam mit Oertl verabredet wurde:

    »Hierdurch bestätige ich, dass Frl. Winter ihre Doktorarbeit zu Ende des Wintersemesters eingereicht hat. Die Arbeit istgrundsätzlich angenommen; doch sind noch einige Änderungen erforderlich. Das mündliche Examen kann voraussichtlich zu Anfang des Wintersemesters stattfinden.«
    Zwei Tage später testiert der Rektor das Schreiben. Zeitgewinn – Salin steht seinen Mann.
    Aber was wird mit Marie? Was jetzt zu erzählen ist, lese ich im Notizbüchlein, finde ich in Briefen von Onkel Willi, sammle ich aus Archiven in Deutschland, Österreich und der Schweiz, ist Zufällen, unerwarteten Begegnungen und guten Recherchen anderer zu verdanken – Historikern und Neugierigen, die auf ganz verschiedenen Wegen und aus vielerlei Gründen auf die verwegene Flucht der fünf »alten Damen« gestoßen sind. Als beste Quelle, ja geradezu als Offenbarung erweisen sich die Nachforschungen von Angela Rammstedt, die sich dem Leben und Schicksal der hochbegabten Gertrud Kantorowicz zugewendet hat. So kommt es, dass die gewagte Flucht der alten Damen durch das ihnen feindliche Deutschland minutiös rekonstruiert wurde.
    Angela Rammstedt befragt in den Neunzigerjahren Augenzeugen und sammelt lebendige Erinnerungen. Frau W. steht nicht im Mittelpunkt ihrer Arbeit, doch was die Damen Kantorowicz, Hammerschlag und die in letzter Minute noch hinzugekommene Paula Korn erlebt haben, gilt auch für Marie.
    Am 15.

April 1942 geht es in Berlin los.

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    »Hoffentlich helfen uns diese Nacht die Sterne.«
    MARIE AM 6.

MAI 1942
    Gertrud Kantorowicz ist klar, dass die fünf betagten Frauen nicht auf »eigene Faust« reisen können. Zunächst soll eigentlich nur sie mit ihrer Tante reisen, dann wird Paula Hammerschlag auf Bitten ihrer Zürcher Schwester Margarete Susman eingeplant. Durch Freund Sommer kommt auch Marie Winter hinzu, und wenige Tage vor dem Termin erpresst sich eine Paula Korn, die von den Plänen

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