Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
packt ein kleines Köfferchen, das sie trotz Gehstock tragen kann, und hängt sich vermutlich den guten Ulster-Mantel um, von dem sie so lange geschwärmt hat und dessen Umarbeitung so aufwendig gewesen ist. Sie fühlt sich schlank und leichtfüßig, zum ersten Mal in ihrem Leben ist Marie ohne Ballast.
Im Haus verabschiedet sich Marie am Vortag. Mit einigen hat sie viele gemeinsame Jahre verbracht: mit ihrem Baron Karl von Kaskel, mit ihrem arischen Mieter, Regierungsrat Dr. Fuchs, mit der Witwe Salomon und deren Stütze und mit ihren »anständigen« Hauswartsleuten, die ihr vielleicht noch eine kleine Wegzehrung zustecken. Den Verwalter, Arthur Lieutenant, bittet sie, an Ilse zu kabeln. Natürlich wird sie ihm bald ihren Verbleib mitteilen, damit Weiteres geregelt werden kann. Danach legt sich Marie noch einmal in ihrem »tiefen Stübchen« hin, um nach einer beinahe schlaflosen Nacht bei Tagesanbruch die Landhausstraße 8 zu verlassen. Sie geht vor bis zur Tram an der Güntzelstraße, und vielleicht wird ihr sogar die Stufen hoch geholfen. Sie fährt mit Koffer und Stern. Nur wenige Berliner werden wissen, welchen schweren Gang Marie nun gehen muss.
In der Sammelstelle an der Levetzowstraße kommt Marie Sara Winter, geborene Eisenberg, nicht an. Sie hat einen Entschluss gefasst. Im Nachlass von Artur Sommer aus dem Jahr 1964 ist zu lesen:
»Frau W., zum ›Abtransport‹ befohlen, wechselte auf dem Wege die Tram, was sonst wohl keines der Opfer tat, und fuhr zu uns zum Lützowplatz.«
Dort in der Wohnung von Gertrud Kantorowicz wartet Marie auf die Ankunft von Artur Sommer. Vermutlich nimmt er sie am Abend mit in sein »Schutzasyl« in der Lützowstraße, wo sie ein paar Tage Ruhe findet, bis er ihr eine weitere Unterkunft im Süden von Berlin bei einer Frau Hünke vermittelt hat. Für ihn kein außergewöhnliches Ereignis, denn schon nach dem Novemberpogrom 1938 hatte er den Juristen Heinz Hammerschlag, den Neffen von Margarete Susman, bei sich versteckt.
Weiter aus den Erinnerungen von Artur Sommer, Heidelberg 1964:
»Beratend und handelnd für die Flucht waren beteiligt: Bendix, sehr aktiv Frau Wundsch, Ursula von Rose, Rudolf von Scheliha u.
a. für die Personalausweise, die bearbeitet wurden, Lebensmittelkarten für den Grenzaufenthalt (Frau Hünke) usw. Bendix ordnete alles diesseits der Grenze, Reiseführer usw. Durch die dienstliche Postverbindung zur Berner Botschaft, meine Getreuen der Geleitscheinstellen, Wehrwirtschaftler und Abwehroffiziere, nicht zu vergessen die Luftwaffen-Attachés in Bern, Madrid und mein Wehrwirtschaftsstellenleiter Seelow in Lissabon. Der Weg nach drüben war vorbereitet, alles war genau benachrichtigt. Dr.
Hammerschlag zum Empfang am Schweizer Übergang. Vorbereitungen waren sorgfältig: Wir zweifelten nicht am Gelingen.«
Am 30.
Oktober 1946 bescheinigt ihm meine Mutter:
Herr Dr.
Sommer hat in den ersten Kriegsjahren meine Mutter, Frau Marie Winter, geborene Eisenberg, wohnhaft in Berlin, die er vorher nicht gekannt hat, nach besten Kräften beraten und unterstützt. Als meine Mutter sich zur Deportation stellen sollte, nahm Dr.
Sommer sie zunächst bei sich auf und vermittelte ihr dann eine Zuflucht bei Frau Hünke. Herr Dr.
Sommer hat schließlich für meine Mutter und drei andere ältere Damen zur Vorbereitung einer Flucht in die Schweiz geholfen.
Von der Lützowstraße sendet Marie eine Postkarte an Ilse:
Berlin, den 31.
März 1942
Mein Geliebtes,
Dank der liebevollen Mühen und Betreuung unseres lieben Dr. geht es zur Besserung, und er rechnet zuversichtlich mit der Hochzeit. Bis dahin behält er Mieze im Sanatorium, und Vicki wird von ihm oder anderer Seite auf dem Laufenden bleiben. Es ist dadurch wenigstens ein erträglicher Zustand entstanden, und Vicki kann sehr beruhigt sein, dass die Gute in treuer Obhut gepflegt und besorgt wird. Der alte gute Gott lebt eben noch. Hoffentlich geht es Dir besser und Du kommst nach und nach wieder zur Ruhe, denn der feste Glaube an Besserung muss einen vieles überwinden lassen. Weiter kann ich Dir heute nichts mitteilen, und ich glaube auch, dass es genügt. Alles Liebe und Gute und angenehme Ostertage, die auch mir gottlob in Aussicht, verbleibe ich mit sehnsuchtsvollen herzhaften Küssen,
Deine Mutti
Puppchen, es ist besser, wenn Edgar an Dr.
Sommer schreibt und nicht Du, habe meine Gründe dafür. Nochmals 1000 herzhafte Küsse von Deiner Mutti
Ilse ist noch im Landdienst.
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