Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Münzenberg – weitere werden folgen.
Fred Heim ist weit davon entfernt, Ilses Traummann zu sein, aber er ist gutmütig und charakterlich integer. Das sieht auchMarie in Berlin so, die sich von ihrer Bekannten Hilde Löwe aus Basel berichten lässt: Ilse solle ihn nehmen, heiraten, und dann könne man ja weitersehen. In unsicheren Zeiten solle man nicht zu wählerisch sein, so auch Mutter Marie aus der Landhausstraße. Doch Ilse ist das zu wenig, Fred ist nicht geistreich und schon gar nicht belesen. Seine Leidenschaft gehört den Aktienkursen. Er spekuliert an der Börse und kauft Zeitungen hauptsächlich, um Haussen oder Baissen zu studieren. Mit ihm hat sie kein Lebensthema. Dabei ist er ein durchaus handfester Mann, der verdienen kann, was er so gern ausgibt.
Bei kleinen jüdischen Händlern im Elsass oder in Lothringen, die von ihm Ware beziehen und trotz Mahnung nicht zahlen, fährt er mit seinem Bugatti vor und beschimpft sie, und wenn das nicht hilft, verprügelt er sie eigenhändig. Danach verlangt er seine Ware zurück und streicht sich die Krawatte zurecht – erledigt. Auch das kann der elegante Fred Heim, der abends im Cercle , dem Klub der Unternehmer von Mulhouse, ohne mit der Wimper zu zucken ein kleines Vermögen beim Baccara gegen die Bank setzt. Er gehört zur Generation der jungen Juden, die sich durch Geld und Profit emanzipiert haben und sich nach dem Motto »Tout va!« die späten Zwanzigerjahre »kaufen«.
In diesem Stil lebt Fred Heim zwischen Mulhouse, Basel, Paris, Cannes und St.
Moritz, bis er Mitte der Dreißigerjahre auf die sechzehn Jahre jüngere Ilse Winter aus Berlin stößt, die ihm nicht in gewohnter Weise gefügig ist, in dieser Inszenierung von Grandhotels, Champagner und Cabriolets aber gern eine frivole Rolle übernimmt. Nach und nach entwickelt sie eigene Ansprüche auf diesen Bühnen.
Neujahr 1936 wird elegant und ausgelassen im Badrutts Palace Hotel in St.
Moritz gefeiert, und im Juli fahren Fred und Ilse mit dem offenen Cabriolet auf der Route Napoleon über die Alpes Maritimes nach Cannes, wo ein Appartement im Carlton Hotel an der Croisette reserviert ist. Monsieur Alfred ist ein habitué in denHotels und Casinos von Toulon bis Nizza. Generell gelten die Elsässer Industriellen als zahlungsfähige, gute Kunden an den Trommeln des Roulettespiels und an den Baccara-Tischen. Fred liebt dieses Leben und genießt die attraktive Berliner Jüdin an seiner Seite.
Ilse hat einen eleganten Auftritt und spricht für eine Deutsche, l’Allemande , wie sie dort genannt wird, gewandt französisch. Sie weiß sich zu bewegen und genießt die vielsagenden Blicke. Auf die verhaltenen Fragen, ob sie als Jüdin in Deutschland keine Furcht haben müsse, hat Ilse keine Antwort. Sie ist schon seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause gewesen, hört wenig, kümmert sich nicht darum. Dass Monsieur in diesem Jahr mit einer Allemande angereist ist, sorgt für Aufsehen und enttäuscht so manche Pariserin, die mit der Absicht an der Côte flaniert, im Herbst mit einer guten Partie ein neues Leben – gern auch in Mulhouse – zu beginnen.
Doch schon nach einer Woche langweilt sich Ilse an der Croisette und in den Casinos. Sie ist keine echte Mondäne, kann nicht länger mit Fred die Nächte am Spieltisch verbringen. Die Jahre mit Gasbarra, Mehring oder Münzenberg haben sie geprägt. Sie ist die Geliebte von Kommunisten und Literaten gewesen, sie hat in Berlin und Paris Armut und Verzweiflung gesehen. Noch immer glaubt sie an die Revolution des Proletariats und hofft, dass zunächst in der Sowjetunion der »Menschheitstraum« von Gerechtigkeit und Gleichheit verwirklicht wird und dann auf der ganzen Welt. Wo immer Ilse auf Ungerechtigkeiten stößt, wo immer in ihrer Gegenwart ein Mensch schlecht behandelt oder gar geschlagen wird, gerät Ilse außer sich; so wie in jener Theaternacht, als sie mitten in der Vorstellung auf die Bühne stürmte, um Unheil abzuwenden. Ilse ist ein Mensch mit einem tiefen Gerechtigkeitssinn – und eine Träumerin. Freds Großzügigkeit wird sie genossen haben, die Art, wie er sein Geld verdient, verachtet sie.
Bald sucht sie Vorwände, beschimpft Fred seines »hemdsärmeligen« Kapitalismus und seiner plumpen Gier wegen und verweigert sich seinen Leidenschaften. Wenn er fluchend nach dem Diner allein ins Casino zieht, läuft sie zum vieux port von Cannes und sucht sich ein Boot, das sie bis zum Morgengrauen auf Fischfang mitnimmt. Die Männer sind begeistert
Weitere Kostenlose Bücher