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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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haben, wie es mit ihr weitergehen könnte. Nach Berlin, zur Mutter, zu den Gesetzen der Nazis und der drohenden Ausgrenzung – das kommt nicht infrage. Wien auch nicht, dort hat es schon einmal nicht geklappt. Paris? Wieder zu Walter Mehring, jetzt Hôtel de l’Univers ? Das Bett ist nicht mehr frei, »Ophelia« Hertha Pauli ist eingezogen.
    Auch Ilses Lieblingsonkel Willi Eisenberg, jetzt Rue Molitor, Auteuil bei Paris, rät ihr ab. Er versucht sich als Erfinder, lässt sich Schnellkochtöpfe und Düngergranulate der Eigenmarke »Florasan« für Schnittblumen patentieren und scheitert. Aus dem lebensfrohen und geselligen Willi ist in kurzer Zeit ein vor Kummer einsamer und kranker Mann geworden. Er macht Schulden, verspekuliert das Wenige in windigen Geschäften und bittet Ilse darum, den wohlhabenden Fred Heim um ein Darlehen für eine »bombensichere Sache« anzugehen. Fred lässt ihm 2000 Franken auszahlen, verlorenes Geld.
    Und Rom, wo »Molz« Gasbarra jetzt mit seinem italienischen Pass lebt? »GAS« reagiert postwendend, er könne nicht für sie sorgen, auch Arbeit gebe es nicht – schon gar nicht für Frauen, nicht einmal für Italienerinnen. Das Netz in Ilses Adressbuch reißt, jeder ist nur noch »provisorisch«, unerreichbar oder auf Weiterreise.
    Ilse denkt nach, rafft ihre Vernunft und beschließt, in Basel zu bleiben, sich Freds Heiratsversprechen durch monatliche Zahlungen vergüten zu lassen, und überlegt, wie sie sich in der Stadt arrangieren soll, um einen Status zu erlangen, der auch den Beamten der Fremdenpolizei einleuchten könnte. Im März 1937 fasst sie einen Plan. Ilse Winter, die in der Obersekunda von der Schule abgegangen ist, immer nur Theater, Rollenstudium und Regisseure im Kopf gehabt hat, keine fünf Zahlen addieren kann, noch nie eine wissenschaftliche Bibliothek betreten hat – diese Frau beschließt, Nationalökonomie und Staatslehre an der Universität Basel zu studieren. Ein neues Aben-teuer beginnt!
    Am 18.

Mai 1937 schreibt sie an den Vorsteher der Basler Fremdenpolizei Fritz Jenny:

    »Ich erbitte höflichst die Verlängerung meines Aufenthalts in Basel. Meine ursprünglichen Pläne habe ich dahingehend geändert, von einer Heirat mit Herrn Alfred Heim im Laufe dieses Jahres abzusehen. Ich beabsichtige, Nationalökonomie zu studieren, und habe mich als Hörerin mit vollem Studienpensum an der hiesigen Universität eingetragen. Meine Existenzmittel sind, wie Sie aus beiliegendem Schreiben ersehen können, gesichert.«
    Das beiliegende Schreiben besteht aus einem einzigen Satz und wird am 14.

Mai 1937 von Alfred Heim in Mulhouse unterzeichnet:

    »Ich bestätige Ihnen, dass ich für Fräulein Winter von Berlin finanziell für ihren Aufenthalt in BASEL aufkomme, sodass Genannte ihre Studien ohne anderwertige Inanspruchnahme absolvieren kann.«
    Von Hochzeit keine Rede mehr!
    In diesen Wochen erhebt Quartierschreiber Grüninger erneut Erkenntnisse über Fräulein Winter:

    Frl. Winter gedenkt daher, sich ganz dem Studium zu widmen. Die oben Genannte hat sich deshalb bereits unterm 4. ds. Mts. als Hörerin der hiesigen Universität einschreiben lassen mit vollem Studienpensum & besucht jeden Tag das Kollegium. Vorerst widmet sie sich dem Studium und überlässt das Weitere der Zukunft. Die Auskunftsgeberin bemerkt ferner, dass sie gar nicht mittellos sei und von ihrer Mutter vor ungefähr 1

½ Jahren ca. RM 18

000 – à conto ihres Vermögens erhalten habe, die sie ihrem Bräutigam zur Aufbewahrung übergeben hat.
    Die von Frl. Winter in ihrem Gesuche angegebenen Referenzen, Frau Hilde Löwe, Herr Hans Ditisheim, Herr Dr.

jur. Alfred Lehmeier & Frau Pepita Wyler, die alle geschieden sind, wurden durch den Unterzeichneten in dieser Sache nicht begrüßt, da man von diesen Personen doch nicht die gewünschte Auskunft erhalten kann.
    Grüninger

/

Quartierschreiber
    Ilse ist nun als Hörerin an der Universität Basel eingeschrieben und taucht in ein neues, ihr vollkommen fremdes Leben ein. Sie ist jetzt fünfundzwanzig Jahre, macht sich nicht mehr blond, schminkt sich nicht mehr »laut«, stattdessen trägt sie gestärkte Blusen und knielange Plisseeröcke. Ihre Kommilitonen sindjunge Schweizer Männer, wohlerzogene Söhne aus der helvetischen Oberschicht, die von konservativen Gymnasien oder katholischen Internaten und vom Militärdienst geprägt sind und sich als Elite verstehen. Mit Ilse verkehren sie kollegial, doch distanziert. In den Hörsälen

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