Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
kann eine Heirat mit Ilse nicht durchsetzen, ohne den Bruch zu wagen. Doch das traut er sich nicht, also sucht er einen Ausweg: Aufschub der Heirat um einige Monate – vielleicht um ein ganzes Jahr!
Allerdings lässt Fred nicht von Ilse, die Lust ist stärker als alle Demütigung. Wie jedes Jahr wird in St.
Moritz voller Zuversicht unter Champagnerkaskaden auf ein gemeinsames neues Jahr angestoßen: 1937! Freds Geschäfte laufen weiterhin gut. Er unterstützt Ilse großzügig – ihre Aufenthaltsgenehmigungen werden verlängert, die »Braut« wird toleriert: Noch scheint das »Boot Schweiz« nicht voll.
In Berlin muss Marie indessen Abschiede »feiern«. »Putz« und Hans Treitel warten auf die Schiffspassage nach Haifa, die Fluchtsteuer von 25
000 Reichsmark ist einbezahlt, 1000 Pfund als »Vorzeigegeld« für Palästina genehmigt. Onkel Hans ist jetztdreiundfünfzig Jahre alt, er wird seine nächsten zwanzig Jahre defekte Kühlschränke und alte Elektromotoren reparieren. Bruder Willi Eisenberg zieht zu einem Freund nach Auteuil bei Paris, weil er in Berlin keine Aufträge mehr findet. In Berlin ist er arbeitslos gemacht worden. Um Marie wird es ab 1936 einsamer, und umso mehr hofft sie auf Heirat und schickt Fred Heim eine frohe Neujahrskarte. Ilse belässt ihre Mutter zunächst im Glauben an die baldige Hochzeit, doch eigentlich ist sie ganz froh, dass sie sich nicht zu eng an Fred binden muss. Er ist generös und gutmütig zu ihr, aber lieben kann sie ihn nicht. Die Männer, die sie geliebt hat und lieben möchte, sind nun über ganz Europa zerstreut. Ihr liebster, Felix Gasbarra, hat sich nach Italien abgesetzt.
Nach den von Stalin angeordneten »Säuberungsprozessen« hat er mit der Kommunistischen Partei gebrochen und arbeitet nun, ideologisch gewendet, für den Partito Fascista in Rom. Bei Radio Roma leitet er – Tür an Tür mit Ezra Pound – die Propagandasendung Deutsche Stunde . Am 18.
Juli 1936 schreibt er ihr auf Briefbogen des Ministerio della Cultura Populare:
Liebe Dicke,
über deine Karte habe ich mich sehr gefreut. Komisch, ich habe gerade in letzter Zeit viel an dich gedacht und dabei sogar – warum soll ich es dir nicht gestehen – so etwas wie Sehnsucht nach dir gespürt. Du hast recht, es gibt so verdammt wenige Menschen, mit denen man reden kann. Nein, es gibt für mich eigentlich gar keinen und schon gar nicht eine Frau.
Oh Gott, ich lebe nicht ungern; wenn ich in Ostia am Strand liege, in der Sonne, und den Wind spüre oder schwimme, fühle ich meinen Körper wie ein gutes altes Tier, das sich redlich Mühe gibt, mich durchzuschleppen.
Aber für welche Idee überhaupt! Wir haben in unserem Leben schon zu viele Zusammenbrüche gesehen, zu viele Ewigkeitswerte in Rauch aufgehen sehen! Und ob wir nun dies tun oder jenes, es wird einmal nicht anders gewesen sein, als ob der Wind über Grashalme gegangen ist.
Ach nein, nicht die paar Sechser zum Leben zu verdienen ist das Schwere, obschon auch das oft schwer genug ist – wir beide wissen’s! –, das wirklich Schwere beginnt dort, wo man sich nach dem Sinn fragt! Und so schließe ich denn mit dem gleichen Lob auf die Dummheit, mit dem ich schon vor Jahren einen Brief an dich schloss, als ich noch in der Küche in der Yorckstraße saß bei einer düsteren Gaslampe und die aufgescheuchten Kanarienvögel um mich schwirrten. Nur dass ich heute mit Wehmut und – Neid an jene Zeit denke. Vielleicht auch nur deshalb, weil sie vergangen ist.
Erhol dich gut und grüß deine Mutter, wenn du an sie schreibst. Und schreib selbst mal ein bisschen ausführlicher.
Alles Liebe und Gute,
wie stets dein GAS
Felix Gasbarra, Rom 1941
Fast alle ihre Freunde leben nun verstreut über ganz Europa. Manchmal ein letzter Brief, ein kurzes Wiedersehen auf den Grenzbahnhöfen. Viele Weiterreisen mit unbekanntem Ziel. Im Schuhkarton Ilses Adressbuch von 1937:
»Harry Cahn, Hôtel Chateaubriand , Paris
Hans Casparius, Floragasse, Wien
Leni Elias, Gundeldingerstrasse, Basel
Angouta Hoarnert, Rue Beausite, Brüssel
Wladimir Pozner, Boulevard Exelmans, Paris
Gisa Doeren, Paniglgasse, Wien
Louise Kaufman, Richmond, Virginia
Hirohito Kitamura, Rue de Lausanne, Genf
Irene Gagliani-Margulis, Via Bernardino Ramazzini, Mailand
Harry Lubliner, Chicago, Illinois
Berkowitz, Rua do Barrão, Lissabon
Veit Silbermann, Postfach, Istanbul
Klagemann, Pension Höhenwald , Davos«
Ilse wird sich in den ersten Monaten des neuen Jahres überlegt
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